Wer erinnert sich nicht mehr an die Zeit vor den Europawahlen, als mit einem ungeheuren Aufwand für die EU als einem urdemokratischen Projekt geworben wurde und nie der Verweis fehlte, es handele sich auch um ein gigantisches Friedensprojekt.
Viele Menschen haben sich davon betören lassen und im Netz sogar ihr Konterfei von Eurosternchen umschwärmen lassen.
Nach der Wahl sah bereits nach kurzer Zeit alles anders aus. Die vorher so gepriesenen Direktkandidaten für den Kommissionsvorsitz spielten keine Rolle mehr und ausgerechnet die als Scharfmacherin profilierte, als Ministerin desavouierte Ursula von der Leyen machte das Rennen – mit Zustimmung des ultraleichten Blocks versteht sich.
Geschichtsrevisionismus
Der rhetorische Firlefanz von vor der Wahl spielt keine Rolle mehr. Das dachten sich auch die Mitglieder der rechtskonservativen Parteien, die einen Antrag ins Parlament brachten, der aus dem angeblichen Friedensprojekt einen Angriff auf den Frieden macht [1].
Die Quintessenz des Antrags lässt sich schnell umschreiben: Ausgehend von der Analyse, dass es sich beim deutschen Faschismus und beim russischen Kommunismus um zwei totalitäre Systeme gehandelt habe, die sich im Hitler-Stalin-Pakt noch verbunden hätten – und Europa nun von dem Knebel des Totalitarismus befreit sei –, sollten alle Denkmäler, die die falsche Assoziation herstellten, die Rote Armee hätte zur Befreiung vom Faschismus maßgeblich beigetragen, demontiert und beseitigt werden.
Die Selbstachtung verbietet es, diesen geschichtsrevisionistischen Schwachsinn auch noch en détail zu widerlegen.
Bei dem kürzlichen Besuch von Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier in Polen [2] hätte man sich bereits denken können, dass an einem derartigen Konstrukt gearbeitet wird. Auch er hatte sich ausdrücklich bei den USA für die Befreiung vom Faschismus bedankt, ohne die damalige Sowjetunion auch nur zu erwähnen.
Wichtig noch zu registrieren, dass dieser Antrag der Unsäglichkeit angenommen wurde, und zwar mit den Stimmen der Sozialdemokraten und der Grünen [3]. In Sachen Geschichtsrevisionismus ist man sich also einig. Der, so ist das immer, dient zur Etablierung neuer Feindbilder. Dass das Russland ist, wissen wir seit dem erfolgreichen Angriff auf die Souveränität der Ukraine. Wie sehr die amerikanische Nomenklatura in diese kriegstreibenden Machenschaften verwickelt war, ist an den dirty Fingers der Familie Biden in diesen Tagen wieder deutlich geworden.
Totalitarismus
Die Theorie des Totalitarismus erklärt im Grunde nichts. Sie wird immer dann hervorgeholt, wenn man eine Blaupause braucht, um das vermeintlich eigene lupenrein demokratische Edelsystem zu beweihräuchern. Allerdings existieren schon immer totalitäre Regimes. Das ist außer Zweifel. Und deren Charakter lässt sich relativ einfach umschreiben.
Ein totalitäres Regime sichert die Herrschaft eines kleinen Kreises von Menschen über den Rest. Es werden Einzelinteressen vor das Gemeinwohl gestellt. Das ist der Wesenszug auch schlicht autoritärer oder sogar sublim demokratischer Systeme.
Was das Totalitäre ausmacht, ist der Versuch, ideologisch alles zu beherrschen und zu durchdringen. Dazu gehört auch die Vorstellung der Gesellschaft von Geschichte.
Geschichte ist das Narrativ, von dem aus das weitere Vorgehen in der Zukunft reflektiert wird. Dabei arbeitet das totalitäre Paradigma in der Regel mit Feindbildern. Sie dienen einerseits dazu, von dem eigenen Agieren im Innern abzulenken, und andererseits haben sie immer im Blick, Aggressionen nach außen zu legitimieren.
Insofern ist der im Europaparlament angenommene Antrag zur Auslöschung der Erinnerung des Beitrags der Roten Armee zur Befreiung vom Faschismus ein willentlich totalitärer Akt, um das Geschichtsbewusstsein der EU-Bevölkerung zu manipulieren. Und beides trifft zu: Ablenken von der eigenen Politik gegen das Gemeinwohl und Vorbereitung kriegerischer Akte gegen Russland. Die EU wird totalitärer. Oder handelt es sich um einen Akt ihrer Tollität [4]?
Quellen und Anmerkungen
[1] Entschliessungsantrag (B9-0097/2019): Eingereicht im Anschluss an Erklärungen des Europäischen Rates und der Kommission gemäß Artikel 132 Absatz 2 der Geschäftsordnung zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs und zur Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas. Verfügbar auf https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/B-9-2019-0097_DE.html (abgerufen am 29.09.2019). ↩
[2] Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: Rede am 1. September 2019 in Warschau. Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkrieges in Wieluń. Verfügbar im Wortlaut auf http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2019/09/190901-Polen-Gedenken-Wielun.html (abgerufen am 29.09.2019). ↩
[3] Europäisches Parlament Plenartagung: Abstimmungsergebnisse zu Bedeutung der Erinnerung an die europäische Vergangenheit für die Zukunft
Europas. Entschließungsanträge: B9-0097/2019, B9-0098/2019, B9-0099/2019, B9-0100/2019. Verfügbar auf http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/PV-9-2019-09-19-VOT_DE.pdf (abgerufen am 29.09.2019). ↩
[4] Der Begriff Tollität wird scherzhaft verwendet. Er steht für Faschingsprinz oder Faschingsprinzessin. ↩
Foto: Viktar Masalovich (Pixabay.com/Lizenz)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Europäische Union: Ihre Tollität und der Totalitarismus“
In meiner eigenen Familie gab es Menschen, die wurden 1945 von den Russen aus den KZ’s befreit und als beim letzten Mal dieses ” Würdigungstheater” von den Siegermächten und dieser unserer unsäglichen ” Regierung” aufgeführt wurde, hab ich mich echt ” die Platze” geärgert, daß die Russen, die ja neben den Juden und Polen, Ungarn, Tschechen am allermeisten unter dem Nazieinmarsch und der Grausamkeit der Nazis leiden mußten und so unendlich viele ihrer Söhne, Väter, Brüder im Krieg gegen die Nazis opferten, einfach nicht eingeladen wurden, welch eine krasse und scheinheilige Geschichtsfälschung, es schreit echt zum Himmel!!!!Denn die Russen haben mehrheitlich Deutschland von den Nazis befreit, die Amis sind doch erst mit eingestiegen, als klar war, daß es demnächst ans große Kuchenverteilen geht, denn sie wußten schon Jahre vorher, was die Deutschen mit den Juden machten, man denke da an das Warschauer Ghetto und das sind belegte Fakten!!! Und wenn man überlegt, daß die CDU/ SPD Regierungen seit Kohl den Aufbau der Netzwerke der neuen Nazis mit Steuergeldern ( auch meinen Steuern, was für eine verdammte Frechheit!!!) durch den Verfassungsschutz finanzierten und es immer noch tun, ist die Politik dieser Regierungen an Scheinheiligkeit kaum noch zu überbieten !!!! Und danke für diesen und alle anderen Artikel Artikel!!
Wurde Deutschland wirklich befreit?
Der Faschismus ist doch unter den Teppich gekehrt worden, damit Nazis weiterhin unter Adenauer (Hans Maria Globke) in Amt und Würden bleiben konnten, denn es gab ja kein „Regierungsfachpersonal“ (ausser Nazis :-D )“.
Die Amerikaner gewährten Amnestie und Asyl, wenn sie sich einen Vorteil (Hans Maria Globke und CIA) erhofften. Oder die Rattenlinie mit Unterstützung des Vatikans. Selbst der Spiegel war in den Anfängen mit Altnazis besetzt.
Europa wurde auch nicht befreit. Spanien(Franco), Jugoslawien(Tito) und auch nicht die UdSSR(Stalin).
Nicht nur von der Leyen und Maas sind weiterhin die Neonleuchten des Faschismus, der nach 1945 kein Ende fand, weil die Entnazifizierungen und Stasiaufarbeitungen nie wirklich stattgefunden haben. Das alles wurde von den Alliierten gedeckt und unterstützt: Rattenlinie, Operation Overcast, Eichmann Schauprozess (Arendt), Kurt Georg Kiesinger, Honeckers Amnestie (Chile), Stasi im BND, neue Polizeigesetze…
Geschichtsrevisionismus? Gibt es überhaupt eine objektive, wahre Darstellung von Geschichte? Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir Menschen nichts daraus lernen mögen/können.