Ein Gespräch mit dem Historiker Prof. Jörn Leonhard über die gesellschaftspolitischen Eruptionen innerhalb Deutschlands und warum Panik fehl am Platze ist.
Deborah Ryszka: Herr Leonhard, wie die Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg zeigen, gewinnt die Alternative für Deutschland an Popularität. Ist das ein Grund eine politische Apokalypse auszurufen, so wie es oft medial geschieht, und den Untergang der repräsentativen Demokratie zu beschwören?
Jörn Leonhard: Es gibt derzeit eine erhebliche Neigung zu alarmistischen Einschätzungen: kaum eine Woche ohne Weimar-Vergleiche und apokalyptische Prognosen zur Zukunft der Demokratie. Ohne Zweifel steckt das bundesdeutsche Parteiensystem in einem tiefgreifenden Umbruch, der Aufstieg der AfD ist in dieser Zuspitzung auch etwas substanziell Neues, und der Blick auf den Erfolg populistischer Bewegungen und autoritärer Figuren in vielen Staaten hat etwas Beunruhigendes. Aber daraus den drohenden Untergang der repräsentativen Demokratie in der Bundesrepublik abzuleiten, erscheint mir völlig überzogen.
Was es aber anzeigt, ist ein großes Verunsicherungspotenzial in Deutschland, eine Art von angstbesetzter Grundstimmung, in der ganz sicher auch die Erinnerungen an historische Gefährdungen der deutschen Demokratie mitspielen. In gewisser Weise wiederholt sich jetzt in der Bundesrepublik mit der dauerhaften Etablierung einer rechtsnationalen Partei mit rechtsextremistischen Strömungen etwas, was die meisten europäischen Gesellschaften bereits hinter sich haben – es handelt sich also sicher nicht um einen deutschen Sonderweg, und ich sehe darin auch keine Staatskrise, vielleicht eher einen Testfall für die Resilienz von Institutionen und politischer Kultur in einer gewachsenen Demokratie.
Vergleichen Sie das mit Großbritannien, wo es derzeit einen wirklich krisenhaften Konflikt zwischen Parlament und Regierung und eine tiefe Polarisierung innerhalb der Gesellschaft gibt. Hier kann wie unter dem Brennglas beobachtet werden, was die Folgen von konkurrierenden Legitimationsmodellen sind, einerseits einem plebiszitären im Brexit-Referendum, andererseits einem parlamentarisch-repräsentativen in Unterhauswahlen. Wenn ein Premierminister gegen das mehrheitliche Votum eines Parlaments Politik macht und es keine geschriebene Verfassung gibt, dann wird daraus eine ganz anderer Test für eine Demokratie.
Der Soziologe Ralf Dahrendorf sah die Aufgabe der Bürgergesellschaft darin, “das Vakuum zwischen staatlicher Organisation und atomisierten einzelnen mit Strukturen zu füllen, die dem Zusammenleben der Menschen Sinn geben”. Ist das lauter werden konservativer Stimmen die Konsequenz eines freischwebenden Vakuums?
Das erscheint mir eine zu kurz geratenen Erklärung zu sein. Es sind ja nicht einfach „konservative Stimmen“, sondern es ist ein Spektrum von rechtskonservativen, nationalkonservativen bis offen rechtsradikalen Strömungen, die derzeit zu beobachten sind. Und das von Dahrendorf diagnostizierte Vakuum existiert in demokratischen Gesellschaften prinzipiell immer. Insofern wäre es keine ausreichende Erklärung für Umbrüche und Veränderungen, die wir in den letzten Jahren erleben.
Das Vakuum hat aber in Zeiten der Globalisierung, der wachsenden sozialen Ungleichheit, der Abnahme traditionaler Bindungen, etwa an Parteienmilieus wie das der SPD, eine viel größere Bedeutung erhalten. Und in den Teilen der deutschen Gesellschaft, die nach 1989 eine Vielzahl dramatischer Veränderungen in kurzer Zeit verarbeiten musste, hat sich diese abnehmende Erwartungssicherheit auch früh im Wahlverhalten geäußert – im Niedergang der traditionellen Wählerbindung durch Milieuparteien, in volatilem Wahlverhalten und der Neigung zu Protestwahlen.
Zusammen mit Ulrike von Hirschhausen gaben Sie 2001 den Sammelband „Nationalismen in Europa – West- und Osteuropa im Vergleich“ heraus. Wie sieht es in Deutschland aus? Kann die gegenwärtig zu beobachtende Umwälzung der parteipolitischen Landschaft als Versuch einer gesellschaftlichen und damit nationalen Selbstfindung interpretiert werden? Und inwiefern veränderte sich seit der Veröffentlichung 2001 das jeweilige Nationenverständnis in Europa?
Zugespitzt formuliert ist der neue rechte Nationalismus viel weniger auf das Territorium des Nationalstaates fixiert wie das im 19. und frühen 20. Jahrhundert der Fall war. Gerade für Deutschland ist das zu beobachten: Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts spiegelte den langen und komplizierten Weg zu einem deutschen Nationalstaat wieder – aber in den derzeitigen Debatten geht es nicht um die Forderung nach Territorien, sondern um Kritik an der Aufgabe nationaler Souveränität, um den Charakter Deutschlands als Einwanderungsland, um das historische Selbstverständnis der Bundesrepublik, den geschichtspolitischen Stellenwert des Nationalsozialismus.
In den neuen Nationalismen, die man in Europa und auch darüber hinaus beobachten kann, geht es meist nicht mehr um den territorialen Bestand eines Staates, obwohl das vereinzelt immer noch eine Rolle spielt, etwa für China mit Blick auf Taiwan oder in der Annexion der Krim durch Russland. Aber gerade in den europäischen Staaten sind die extremen nationalistischen Reflexe viel öfter das Resultat einer tiefgreifenden ökonomischen, politischen und kulturellen Verunsicherung und dem subjektiven Gefühl, angesichts vieler Veränderungen in kurzer Zeit und im Blick auf die Konsequenzen der Globalisierung auf der Verliererseite zu stehen. Die Erfahrung der Finanzkrise als Krise des globalen Kapitalismus und die Flüchtlingskrise haben diese Wahrnehmung ganz sicher erheblich verstärkt.
Deutschland feiert dieses Jahr 30 Jahre deutsche Einheit. Lassen sich die Unterschiede nationaler Selbstbilder auch auf Ost- und Westdeutschland beziehen?
Ich bezweifle, ob man „nationale Selbstbilder“ so einfach nach ost- und westdeutschen Mustern aufteilen kann. Da spielen andere Faktoren jenseits der Geographie eine wichtige Rolle: etwa die Bindungskraft der christlichen Konfessionen, die Stabilität oder Instabilität politischer Milieus, regionale Traditionen, sozioökonomische Position, Bildungswissen, Auslandserfahrung. Die einfache Gleichung „AfD-Wahlerfolge im Osten ist gleich konservatives Selbstbild einer deutschen Nation im Osten“ funktioniert so jedenfalls nicht. Was es in der Generation derer, die in Ostdeutschland 1989/90 erlebten, sicher gibt, ist die bereits oben angesprochene Erfahrung von massiven politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Umbrüchen und deren ganz konkrete Folgen für das eigene Leben und den eigenen Alltag. Das hat eine offenkundig latente Verunsicherung begründet.
Welche wesentlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen nach Ihrer Expertise zwischen Ost- und Westdeutschland?
Einiges habe ich bereits angesprochen. Wichtig erscheint mir vor allem, dass die vielen Westdeutschen eigene Erwartungssicherheit, das über lange Jahrzehnte seit 1949 gewachsene Vertrauen in politische Institutionen und tradierte Parteien, für viele Ostdeutsche so nicht gilt. Sie mussten sich nach 1989 in kürzester Zeit auf viele radikal neue Bedingungen einstellen. Das erklärt das Gefühl der Zurücksetzung, das subjektive Empfinden des Verlierers – zumal es ja auch objektive Unterschiede gibt: in der wirtschaftlichen Leistungskraft, den Bevölkerungsverschiebungen durch Abwanderung, in der Präsenz Ostdeutscher in den Eliten, also in Aufsichtsräten, Ministerien, bei Richtern und Hochschulrektoren.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Leonhard.

Zur Person: Jörn Leonhard (Jahrgang 1967) ist Lehrstuhlinhaber für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er ist unter anderem Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und Fellow of the Royal Histiorical Society. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehört unter anderem die Vergleichende Geschichte Europas und der Vereinigten Staaten seit dem 18. Jahrhundert, die Themenkomplexe vom Nationalismus bis hin zum Liberalismus beinhalten. Zudem ist er Autor zahlreicher Schriften wie zum Beispiel „Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs“ (Beck 2014), „Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923“ (Beck 2018) und in Vorbereitung erscheinend „Empires – Die Krise der Vielfalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert“. Leonhard ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Staats- und Europastudien.
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Deborah Ryszka (Jahrgang 1989), M. Sc. Psychologie. Nach universitär-berufspsychologischen Irrwegen in den Neurowissenschaften und Erziehungswissenschaften nun mit aktuellem Lager in der universitären Philosophie. Sie versucht sich so weit wie möglich der gesellschaftlichen Direktive einer hemmungslosen öffentlichen Selbstdarstellung bis hin zur Selbstaufgabe zu entziehen. Mit Epikur ausgedrückt: „Lebe im Verborgenen. Entziehe dich den Vergewaltigungen durch die Gesellschaft – ihrer Bewunderung, wie ihrer Verurteilung. Lass ihre Irrtümer und Dummheiten und gemeinen Lügen nicht einmal in der Form von Büchern zu dir dringen.“