Kennen Sie Jakob van Hoddis? Sein Weltende? Er kam mir in den Sinn, als ich heute in die Journale blickte. Ich war so dreist, etwas Ähnliches zu versuchen:
Journal
In Paris besprüht die Polizei
Demonstrierende Feuerwehrleute
Mit Tränen aus Gas,
Syrische Terroristen
Weinen im deutschen Fernsehen
Aus Furcht vor Assad,
Türkische Panzer aus deutschen Fabriken
Rollen gegen Dörfer Kurdistans,
Die Liquidatoren der Friedensbewegung,
Die Zerstörer Jugoslawiens,
Beklagen den Nobelpreis
Für einen, der verstehen wollte und
Werbeagenturen nicht glaubte,
Kommentatoren repetieren
Das Lied der Täter
Bis zum Erbrechen
ohne Unterlass.
Auf der Brücke des Atlantiks
Stehn Matrosen ohne Hosen
Und geben Rat, den keiner will.
Leuchtende Scooter zieren das Stadtbild
Und besänftigen das ungute Gefühl
Im eigenen Bauch.
Der Sinn entleert sich
In Tüten aus Plastik,
Die Besoffene
Im Meer versenken.
Quellen und Anmerkungen
Jakob van Hoddis (1887-1942) war ein Dichter des literarischen Expressionismus. Sein Gedicht Weltende wurde erstmals 1911 in der Berliner Zeitschrift Der Demokrat veröffentlicht. Das Gedicht erreicht Kultstatus. Wegen einer fortschreitenden psychischen Erkrankung wurde Van Hoddis 1926 entmündigt. Danach lebte er in Heil- und Pflegeanstalten. 1942 wurde er von den Nazis nach Polen deportiert und in einem Vernichtungslager ermordet. Einige Gedichte von Jakob van Hoddis können zum Beispiel auf www.jbeilharz.de nachgelesen werden.
Foto (cropped): Jacob van Hoddis (1910); Wikipedia, gemeinfrei.
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Journal – Dreist wie Jakob van Hoddis“
Vielleicht ist es angebracht, auch das Gedicht von Jakob van Hoddis (1911) hier zu zitieren?
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei
und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.