Momentan liegt in nahezu jeder Buchhandlung, die etwas auf sich und die Tradition des Gewerbes hält, ein kleines Buch aus, das wie aktuelle Saisonware angeboten wird. Es handelt sich um einen Vortrag, den Theodor W. Adorno im Jahr 1967 vor Wiener Studenten gehalten hat. Titel: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus.
Rechtsradikalismus
Ob er selbst zu Lebzeiten einer derartigen Publikation zugestimmt hätte, erscheint fraglich. Erstens sah er wie kein anderer den Unterschied zwischen einer niedergeschriebenen Textur und dem damit verbundenen Prozess der bewussten Gestaltung und dem gesprochenen Wort. Doch davon einmal abgesehen, ist die Originalität durch vorliegende Tonaufnahmen gesichert. Adorno hat wirklich gesprochen.
Was den Text aufgrund des Vortragscharakters ausmacht, ist seine problemlose Lesbarkeit, was bei den geschriebenen Adorno-Texten nicht immer gegeben ist. Abgesehen davon ist der Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht zufällig. Historisch hatte sich Adorno 1967 mit seiner ganzen Erfahrung des Exils und der Erforschung des autoritären Charakters im Rahmen des Instituts für Sozialforschung in den USA im Rücken Gedanken zum Wiedererstarken der NPD gemacht und den Wiener Studenten diese Gedanken präsentiert.
1:1-Analogien sind historisch zumeist irreführend und nicht gegeben, obwohl vieles dazu einlädt. Auch das betont er in dem Vortrag. Was Adorno jedoch an Gedanken formuliert, sollte in dem konkreten heutigen Kontext unbedingt eine Rolle spielen. Denn die Ausführungen zeigen, wie grundfalsch manche Annahmen im Kampf gegen den Rechtsradikalismus heute sind.
Kapitalkonzentration
Bevor Adorno zu den Techniken und psychosozialen Grundlagen des Faschismus zu sprechen kommt, betont er die ökonomisch-soziologische Dimension.
Solange, so Adorno, die Tendenz des Kapitalismus die Kapitalkonzentration sei und die damit verbundene regelmäßige Zerstörung der mittleren Schichten vor sich gehe, bestehe nicht nur theoretisch ein gravierender Widerspruch zwischen Demokratietheorie und wirklicher Machtkonzentration, sondern werde die Existenzangst immer wieder Untergangsfantasien produzieren, denen die Betroffenen mit einfachen Lösungsmodellen begegneten.
An dieser realpolitischen Konstante hat sich bis heute nichts geändert. Also ist über die Kapitalkonzentration und das, was die groteske Aufteilung des gesellschaftlichen Reichtums betrifft, unbedingt zu reden, wenn es um den neuen Rechtsradikalismus geht.
Propaganda
Eine andere bedeutende Botschaft aus Adornos Vortrag ist der Verweis auf die Techniken der rechtsradikalen Propaganda. Es handelt sich dabei um eine neue, moderne Erkenntnis, die für die Reflexion des Kommunikationszeitalters à jour ist: Es kommt gar nicht auf die Inhalte und ihre logische Konsistenz an, sondern auf die Art der Vermittlung.
Da hört man Marshall McLuhans Satz, dass das Medium die Botschaft ist, sehr deutlich heraus. Insofern ginge es, wenn wir über den Kampf gegen den Rechtsradikalismus reden, nicht um inhaltliche Widerlegung seiner einfachen und durchsichtigen Botschaften, sondern um die Zerschlagung seiner Übertragungsmedien.
Autoritärer Charakter
Der dritte Komplex von Adornos Aussagen betrifft die psychosozialen Muster, die dem Prototyp des Rechtsradikalen entsprechen. Dabei rät er, sich statt der diskursiven Auseinandersetzung mit den politischen Aussagen des Rechtsradikalismus zu widmen, den autoritären Charakter ihrer Vertreterinnen und Vertreter zu thematisieren. Darzulegen, was an Unemanzipiertem, an Ängstlichem und an Illusorischem diesem Typus zugrunde liegt.
Eine Diskussion darüber führe zu den Angstquellen und unbewältigten Traumata, die ein Bild der Hilfsbedürftigkeit herstellten und eine daraus abgeleitete politische Programmatik als abwegig demaskiert.
Auf den wenigen Seiten, um die es hier geht, liefert der Vertreter der kritischen Theorie auch nach mehr als einem halben Jahrhundert essenziell mehr als der heute gesellschaftlich eingespielte Betroffenheitsgestus1Gestus bedeutet Ausdruck, Habitus oder Gestik. angesichts der realen Gefahr hergibt. Die Hinweise sollten praktische Folgen haben. Und die Agenda muss bestehen aus den Themen der Reichtumsverteilung, der Verhinderung medialer Propaganda und der Dechiffrierung des autoritären Charakters bei denen, die sich dem Rechtsradikalismus zugetan fühlen.
Allen sei das Buch empfohlen und die Botschaften ans Herz gelegt.
Informationen zum Buch
Aspekte des neuen Rechtsradikalismus
Autor: Theodor W. Adorno
Seiten: 86
Erschienen: 15.07.2019
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-58737-9
Foto: Chris Barbalis (Unsplash.com; cropped)
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
9 Antworten auf „Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“
Wie passt die obige antisemitische Karikatur zum lesenswerten Adorno-Beitrag?
Antwort Redaktion: Die Interpretation und Unterstellung als antisemitisch ist unangebracht. Das Foto, aufgenommen von dem italienischen Fotografen Chris Barbalis (u.a. auf https://www.flickr.com/people/chrisbarbalis/ und auf https://unsplash.com/@cbarbalis zu finden), zeigt eine “Wall Street Art” in Form einer Comicfigur an einem öffentlichen Platz, einen Zauberer oder Magier oder Entdecker, der in einem mit einem Wasserrad angetriebenen Boot über ein Meer schippert. Die Aufnahme hat keinen inhaltlichen Bezug zum Beitrag und stellt keine inhaltliche Aussage dar. Bei der Kombination aus Hauptbild und Text verfolgt Neue Debatte die Trennung beider Elemente, ein avantgardistischer Ansatz, um ein Framing zu vermeiden.
@Redaktion – Was würde Adorno dazu sagen?
Antwort Redaktion: Eventuell würde Adorno sagen, dass Kunst Magie sei, “befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein”.
@Redaktion – oder auch: “Der Splitter in deinem Auge ist das beste Vergrößerungsglas.”
So könnten wir natürlich noch eine gute Weile hin und her weisheiten in unseren unterschiedlichen
Wahrnehmungen. Mir geht es nicht um’s Rechthabenwollen, sondern darauf hinzuweisen, dass
bestimmte Körpermerkmale in Verbindung mit der Wall Street an bekannte Stereotype vom sog. “Geldjuden”
anknüpfen.
Würde mich freuen, wenn der Adorno-Artikel mit einem Adorno-Foto erscheinen würde.
Antwort Redaktion: Das ist keine “Wall Street” Kunst, sondern sogenannte “Street Art”, im konkreten Fall an einer Wand (Wall) aufgebracht. Street Art ist eine Weiterentwicklung des klassischen American Graffiti, in der Comicfiguren oder comicähnliche Darstellungen keine Seltenheit sind. Und wenn man sich diese Figur genauer betrachtet, so ist der Homunculus zu entdecken, der seinen Ursprung in der Alchemie hatte.
@Redaktion: Wallstreet-Art hin (von der spreche nicht ich, sondern Sie in ihrem obigen Kommentar), “Street-Art” her. Warum gehen Sie nicht auf meinen Hinweis ein, dass die Fokussierung auf bestimmte Körpermerkmale
in Verbindung mit der Finanzwelt ein antisemitisches Klischee bedient (auch wenn das nicht in der Absicht des Künstlers liegen sollte) ?
Ich vermisse Ihre Antwort auf meine Bitte, dieses Bild gegen eines von Adorno auszutauschen ??!
Antwort Redaktion: Wir haben keine Veranlassung das Bild zu tauschen, unabhängig von der Frage, wie Kunst interpretiert wird.
Bei den Auswüchsen gegenwärtiger Identitätspolitik des linken Spektrums drängt sich mir allerdings auch der Verdacht auf autoritäre Charakter auf.