Literatur, die sich ausschließlich dem widmet, was seit der Dominanz der bürgerlichen Gesellschaft das Private genannt wird, hat dazu beigetragen, dass ihre Verbreitung auch in jene Schichten nur selten so richtig gelang, die heute teils despektierlich das Prekariat genannt werden. Dort, wo Literatur sprichwörtlich in den Dreck gegangen ist, konnte so etwas wie ein Gegenbeweis erbracht werden.
Brecht, Steinbeck, Tolstoi, Victor Hugo…
Da waren es plötzlich die Leute, die im Dreck lebten, die sich für sie interessierten. Diejenigen, die der Literatur dazu verhalfen, die Reise in die Schattenwelten des Daseins anzutreten, gingen aus diesem Unterfangen als Große ihres Fachs in die Geschichte ein.
In Deutschland war es ein Bertolt Brecht, in den USA Menschen wie John Steinbeck [1] und Upton Sinclair [2], in England ein Charles Dickens [3], in Russland ein Tolstoi [4], ein Puschkin [5] und ein Gorki [6] und in Frankreich ein Balzac [7], ein Zola [8] und Victor Hugo [9].
Als Charles Dickens starb, begleiteten in London eine halbe Millionen Menschen seinen Sarg. Und wer heute durch Moskau schlendert, sieht jeden Tag einen Berg frischer Blumen an den Statuen der Genannten, und auch auf den Pariser Friedhöfen ist es nicht anders. Das hat Ursachen. Und diese Ursachen liegen in der Bereitschaft, die Sprache und Bilder des kollektiven Gedächtnisses und der kommunikativen Kompetenz dazu zu nutzen, um das gesellschaftlich Relevante zu beleuchten.
Der letzte Tag eines Verurteilten
Victor Hugo war gerade einmal 27 Jahre alt, als er ein Werk dem Kampf gegen die zu dieser Zeit in Frankreich praktizierten Todesstrafe widmete. Er nannte die Schrift „Der letzte Tag eines Verurteilten“. In ihr macht er das Opfer einer verhängten Todesstrafe zum Ich-Erzähler. Der beschreibt, wie es ihm ergeht, vom Prozess bis zum Schafott.
Es ist die Zeit des nach-revolutionären Frankreichs, das es zur Empörung Victor Hugos nicht geschafft hatte, sich von der Todesstrafe, die besonders in den verschiedenen Phasen der Revolution zu regelrechten Hinrichtungsblutbädern geführt hatte, zu lösen. Und die Guillotine lief, wie auch in dieser Erzählung geschildert, zwar sehr häufig, aber bei weitem nicht wie geschmiert. Immer wieder stockte das Fallbeil und führte zu den grausamsten Quälereien.
Hugo gelingt es, anhand des Einzelschicksals den Prozess der eigenen, selbstbezogenen Reflexion des betroffenen Individuums sehr empfindend darzulegen und die kalte, auf Vernunft und Jurisdiktion beruhende Reflexion zu vereinen.
Während dem Individuum, trotz der Taten, wegen derer es verurteilt wurde, eine Gefühlswelt und Bedürfnisse wie allen Menschen zugestanden wird, erhält die rechtsphilosophische Reflexion, die letztendlich nicht das Prinzip der Besserung des Delinquenten, sondern die Rache an dem selben obsiegen lässt, eine harsche Zurückweisung.
Hugos Geschichte will das Verbrechen nicht verharmlosen, aber sie appelliert an eine gesellschaftliche Räson, die die Prinzipien des Humanismus als Grundlage hat.
Appell gegen die Todesstrafe
„Der letzte Tag eines Verurteilten“ ist nicht nur eine flammende Rede gegen die Todesstrafe. Die Erzählung ist auch ein Dokument. Und zwar ein Dokument über das Engagement in der Literatur. Den Einsatz gegen Grausamkeit und Brutalität, für Gnade und Demut. Alles humane Größen, die jenseits der Kategorien der Macht in Gesellschaften mit einem hohen Zivilisationsgrad Geltung beanspruchen.
Der damals noch junge Autor blieb seinem Standpunkt treu. Für seine Haltung, die er während seines Schriftstellerlebens beibehielt, ging er insgesamt 17 Jahre ins Exil. Das hinderte ihn nie daran, die Literatur, die seiner Feder entsprang, für die Konzeption einer besseren Welt einzusetzen.
Quellen und Anmerkungen
[1] John Ernst Steinbeck (1902 – 1968) gehörte zu den meistgelesenen US-amerikanischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Er arbeitete phasenweise als Journalist und war im Zweiten Weltkrieg Kriegsberichterstatter. Schon 1940 wurde er mit dem Pulitzer-Preis für seinen Roman Früchte des Zorns ausgezeichnet. 1962 erhielt Steinbeck den Nobelpreis für Literatur. ↩
[2] Upton Beall Sinclair (1878 – 1968) war ein US-amerikanischer Schriftsteller. In Deutschland wurde er durch zahlreiche Übersetzungen bekannt. Sein Werk thematisiert Sozialkritik in vielerlei Form. ↩
[3] Charles John Huffam Dickens (1812 – 1870) war ein englischer Schriftsteller. Zu seinen bedeutendsten Romanen zählen David Copperfield, Bleak House, Große Erwartungen und Dombey und Sohn. Eines seiner bekanntesten Werke ist Oliver Twist. ↩
[4] Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi (1828 – 1910) war ein russischer Schriftsteller. Seine Hauptwerke Krieg und Frieden und Anna Karenina sind Klassiker des realistischen Romans. ↩
[5] Alexander Sergejewitsch Puschkin (1799 – 1837) war Dichter und gilt als Begründer der modernen russischen Literatur. ↩
[6] Maxim Gorki (1868 – 1936) war ein russischer Schriftsteller und politischer Aktivist. Nach ihm benannt ist das Maxim Gorki Literaturinstitut in Moskau. ↩
[7] Honoré de Balzac (1799 – 1850) war ein französischer Schriftsteller. Sein Hauptwerk, dessen Romane und Erzählungen ein Gesamtbild der Gesellschaft im Frankreich seiner Zeit zu zeichnen versuchen, ist der unvollendete Romanzyklus La Comédie humaine (dt.: Die menschliche Komödie). ↩
[8] Émile Édouard Charles Antoine Zola (1840 – 1902) war ein französischer Journalist, Schriftsteller und Maler. Zola gilt als einer der großen französischen Romanciers des 19. Jahrhunderts. Maßgeblich beeinflusste er die literarische Strömung des Naturalismus in Europa. Als Journalist trug er mit seinem offenen Brief J’accuse …! („Ich klage an …!“), der am 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore erschien und einen politischen Skandal verursachte, zur späteren Rehabilitierung des fälschlich wegen Landesverrats verurteilten Offiziers Alfred Dreyfus bei. ↩
[9] Victor-Marie Hugo (1802 – 1885) war ein französischer Schriftsteller (Romantik und Realismus) und politischer Publizist. Er verfasste Gedichte, Romane und Dramen. Hugo war zudem politisch aktiv als Abgeordneter oder auch Senator. Der Roman “Der letzte Tag eines Verurteilten” wurde 1829 unter dem Namen Le dernier jour d’un condamné veröffentlicht. Er bezieht eine klare Position gegen die Todesstrafe. ↩
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.