Wenn die großen Umbrüche stattfinden, dann bleibt zumeist nichts so, wie es einmal war. In der Erinnerung verklären sich dann die Bilder. Vielen Menschen erscheint es dann so, als hätten sie in goldenen Zeiten gelebt und alles, was an Neuem entstanden ist, kann unter diesen Eindrücken nicht mehr imponieren. Nichts ist trügerischer als diese Art von Erinnerung. Sie liegt nämlich unter einem Schleier, der alles verdeckt, was in der Vergangenheit an Dreck, an Unrat, an Schmerz und an Verzweiflung existierte.
Die Fata Morgana
Die sogenannte gute alte Zeit entpuppt sich, wenn der realistische Blick die Oberhand gewinnt, als eine Fata Morgana. Zumindest für diejenigen, die sich erfolgreich aus ihr herausgekämpft haben. Denn diejenigen, denen das nicht gelungen ist, die sind schon längst nicht mehr unter den Lebenden. Und sollten sie es dennoch sein, dann haben sie keine Stimme mehr.
Die einzige Gruppe, die zu Recht über die goldene Vergangenheit sprechen kann, sind die ehemaligen Gewinner, die sich in Ruhm und Reichtum sonnen konnten, bis das alles zusammenbrach. Doch sie sind in einer verschwindenden Minderheit, wie immer. Das Gros der Gesellschaft muss kämpfen. Das war so in der verklärten Vergangenheit, das ist so während der Zeiten der großen Umbrüche und das wird so sein, wenn sich alles neu sortiert hat.
Umbrüche hat es immer gegeben. Auf der Oberfläche lassen sie sich als etwas beschreiben, das die Dominanz der Kräfte, die für ein bestimmtes Zeitmaß die Entwicklung maßgeblich bestimmten, an einem gewissen Zeitpunkt den Zenit erreicht haben. Dann lassen sich neue Kräfte beobachten, die innovativer sind, die mehr Dynamik besitzen und die andere Interessen verfolgen und die sich zum Angriff auf das Bestehende formieren.
Dekadenz als Zeichen
Zunächst erscheinen die herrschenden Verhältnisse dann als nicht mehr so gut wie allgemein dargestellt, vieles bekommt das Attribut „marode“ und die Eliten vermitteln ein Bild, als seien sie sich des Ernstes der Lage gar nicht bewusst.
Es ist wie eine Wiederholung der Kapitel in den Geschichtsbüchern, in denen die späte Dekadenz von Gesellschaften beschrieben wird. Da steht nur noch das eigene, in Verschwendung und Unmaß badende Wohlergehen im eigenen Fokus. Da wird nichts mehr investiert, da findet keine Erneuerung mehr statt, da werden Probleme verdrängt und es wird ein Lied angestimmt, in dem die eigene Glorie auf Ewigkeit besungen wird, obwohl sie längst am Abgrund steht.
Die späte Dekadenz am Ende einer Epoche ist das verlässlichste Zeichen für einen gravierenden Umbruch.
Die Kräfte des Wandels
Denn während dieses Lärms, der durch die Sattheit und Verschwendung hier wie der wachsenden Not und dem Überdruss gegenüber dem Alten dort verursacht wird, wirken bereits die Kräfte des Wandels. Sie nutzen den Alltag, um die Routinen zu Fall zu bringen.
Sie erneuern alles, sie reden nicht viel und sie haben mit dem, was auf der großen Bühne passiert, nicht viel im Sinn, weil sie mit der Veränderung des Alltags alle Hände voll zu tun haben. Wenn diese Vertreter einer neuen Ordnung die Bühne betreten, dann ist bereits alles vorbei – für die alte Zeit und deren Prinzipien. Sie kann sich dann verklären lassen, von denen, die damals das Sagen hatten und denen, die an den Schmerz nicht mehr erinnert werden wollen.
Die neuen Kräfte hingegen werden sich mit dem Neuen selbst, das oft technischer und wirtschaftlicher Natur ist, auseinanderzusetzen haben und dann daran gehen müssen, politisch ihre Interessen zu vertreten, um eine neue soziale Ordnung zu etablieren. In Zeiten des Umbruchs, wenn er denn in vollem Gange ist, bleibt für diejenigen, die ihn betreiben, keine Zeit, in der Verklärung des Vergangenen zu verharren.
Und wer bei der hiesigen Beschreibung bestimmte Bezüge zum Zeitgeschehen gewittert hat, verfügt über eine gute Nase.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Umbrüche kündigen sich an“
Der Beitrag ist so “neutral” geschrieben, sozusagen aus der Deckung, dass er für jeden Wandel von einer zur anderen Gesellschaftsordnung verwertet werden kann. Es wird von einer “sozialen” Veränderung gesprochen, das kann alles sein, es kommt auf den Standpunkt und das Ziel an, von denen man an die Veränderung herangehen will. Das Soziale kann in allen Richtungen verändert werden: Es kann wieder in die Realität umgesetzt oder völlig abgeschafft werden. Der Beitrag schafft also Illusionen darüber, versucht bei den einen eine ersehnte Hoffnung zu erwecken, bei den anderen eine Art Triumphgeheul auszulösen. Nein, mit diesem Beitrag kann ich nichts anfangen. Ich habe ja viel Verständnis dafür, dass der Autor des Beitrags nicht offen schreiben will – und kann! -, aber so wird der Beitrag meines Erachtens weder eine Hoffnung noch eine Aktion auslösen. Er gehört in den Bereich der bürgerlichen Illusion.
Für mich auch eine Folge dessen, dass uns mit dem Internet ein Maulkorb angepasst wurde.