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Für ein Lexikon der psychologischen Regierungs- und Meinungsführung

Die Produktion von Komplexität ist zu einem Massensport geworden. Die bittere Konsequenz wird nicht gesehen: Stillstand.

Tatsächlich leben wir in einer Zeit, in der Komplexität allgegenwärtig ist und folglich die Neigung, Komplexität herzustellen, vielen als eine Tugend gilt. Selbst bei den einfachsten Sachverhalten versuchen die gewieften Methodencracks unserer Tage, eine derartige Komplexität herzustellen, dass eine Entscheidung, wie mit dem Sachverhalt umzugehen ist, in weite Ferne rückt. Denn eines ist gewiss: Je komplexer eine Sache, desto schwieriger ist es, zu Entscheidungen zu kommen und damit umzugehen.

Salopp ausgedrückt ist die Produktion von Komplexität zu einem Massensport geworden, an dem sich viele beteiligen, ohne die bittere Konsequenz vor Augen zu haben: Stillstand.

Neben den täglichen Routinen und Petitessen existieren selbstverständlich tatsächlich große Zusammenhänge, die komplex sind und in ihrem Gesamtbild kaum zu fassen sind. Nahe liegend und wahrscheinlich auch beabsichtigt ist es, dass die Betrachtenden dann die berühmte Flinte ins Korn werfen und sich von dem unverdaulichen Gesamtbild abwenden.

Eine Alternative kann darin bestehen, aus dem großen Ganzen kleinere Partikel und Fragmente herauszulösen. Sie können gut beschrieben und analysiert und danach wieder in das Gesamtbild eingefügt werden. Je mehr von diesen kleinen Laborarbeiten erledigt sind, desto weniger Unbekannte hat das große Panorama an der Wand.

Regierungs- und Meinungsführung

Zu reden ist über das gegenwärtige System der Regierungs- und Meinungsführung. Es ist für viele unbefriedigend, aber nicht zu fassen. Sicher scheint mir zu sein, dass es sich um kein Intrigenstück weniger dunkler Intriganten handelt, sondern um ein sich über einen relativ langen Zeitraum peu à peu eingespieltes System, das teils aus Argumentationsmustern und teils aus Instrumenten besteht.

Insgesamt wirkt dieses System desaströs, weil es die Welt, so wie sie ist, dem Urteil des kühlen Kopfes entzieht und ein verworrenes, emotional aufgeladenes Theater inszeniert, das von Gastspiel zu Gastspiel hastet und dem Publikum vor allem eines beschert: die größtmögliche Verwirrung.

Zu dem argumentativen Arsenal gehören Floskeln wie Europahasser, Verschwörungstheoretiker, Putinversteher oder Klimaleugner. Sie sind gesetzt und etabliert und haben als Massenwirkung zur Folge, dass sich viele Menschen nicht mehr trauen, gegen eine imperiale, wirtschaftslibertäre Europapolitik, gegen eine militärische Ostexpansion oder für eine tatsächlich konsequente Klimapolitik, die sich nicht mit Alibi-Geplänkeln wie der E-Mobilität abspeisen lässt, aufzubegehren, weil die Konsequenz in allgemeiner Bezichtigung der Unzurechnungsfähigkeit endet.

Symbolpolitik und Derailing

Ein anderes, blendend eingespieltes Instrument ist die Symbolpolitik, bei der es vornehmlich darum geht, etwas durchzuspielen, das nichts verändert, das lediglich symbolischen Charakter hat, aber die Emotionen genügend mobilisiert und alle in einem erschöpften Zustand ohne zählbares Ergebnis zurücklässt.

Eskortiert wird das seit einiger Zeit von dem, was man gerne anderen vorwirft und das den – woher sollte es auch sonst kommen! – aus den Propagandaagenturen der Jetztzeit gestylten Namen Derailing1Derailing bedeutet Entgleisung. Bezeichnet wird damit eine Strategien, die angewandt wird, um eine Diskussion vom eigentlichen Thema ab- bzw. wegzulenken. Dabei werden die kommentierten bzw. kritisierten Positionen meistens als unwichtig abgetan oder trivialisiert. trägt. Für sich bereits eine Diskriminierung, weil er im Deutschen nichts anderes meint als eine Entgleisung, soll er dazu dienen, Zusammenhänge, sollten sie denn herzustellen sein, zu verhindern.

Ein Beispiel für den Derailing-Vorwurf ist die Geschichte mit Trumps Telefonat mit dem neuen Präsidenten der Ukraine. Die amerikanischen Demokraten werfen ihm vor, seine innenpolitischen Interessen mit seinem Amt vermischt und auch noch ausgetragen zu haben. Deshalb die Initiative der Amtsenthebung. Konsequent ausgeblendet blieb bis heute der Anlass. Was haben Joe Biden und sein Sohn in der Ukraine getrieben? Die Fakten machen klar, dass Biden ebenfalls und noch stärker der Vorwurf zu machen ist, den die Demokraten gegen Donald Trump erheben. Ein Verweis darauf gilt jedoch als Derailing, als Entgleisung.

Vorschlag für eine Initiative

Die Notwendigkeit eines Kompendiums, in dem die zeitgenössischen Killerphrasen und Verdunkelungsinstrumente beschrieben sind, ist an der Zeit. Nehmen Sie die angerissenen Gedanken als einen Vorschlag für eine Initiative zu einem Lexikon der psychologischen Regierungs- und Meinungsführung.


Grafik: Neue Debatte

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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