Schauen wir uns die umfangreiche Literatur der Ethnographie an. Seit einigen Jahrzehnten ist sie bemüht, primitive Gesellschaften zu beschreiben und ihre Funktionsweise zu verstehen. Dabei ist äußerst selten von Gewalt die Rede und wenn überhaupt, dann nur um zu zeigen, wie diese Gesellschaften sich abmühen, sie zu kontrollieren, zu kodifizieren, zu ritualisieren, kurz, einzudämmen, wenn nicht gar abzuschaffen.
Man bringt zwar Gewalt zur Sprache, aber ausschließlich um zu zeigen, welches große Entsetzen sie primitiven Gesellschaften einjagt, um dann, unterm Strich, feststellen zu können, dass es sich um Gesellschaften gegen Gewalt handelt.
Folglich überrascht es nicht, dass in der zeitgenössischen ethnologischen Forschung eine allgemeine Betrachtung über Gewalt in ihrer zugleich brutalsten und kollektivsten, in ihrer reinsten und sozialsten Form fast gänzlich fehlt: der Krieg.
Wenn sich der neugierige Leser oder der Forscher der Sozialwissenschaften ausschließlich auf den ethnologischen Ansatz über Krieg bei Primitiven, genauer: seine Nichtexistenz – bezieht, dann folgert er zurecht, dass (mit Ausnahme einiger nebensächlicher Anekdötchen) Gewalt im gesellschaftlichen Leben der Wilden keine Rolle spielt, dass sich das primitiv-gesellschaftliche Sein außerhalb von bewaffneten Konflikten entfaltet, dass der Krieg nicht zur normalen und gewöhnlichen Art und Weise des Funktionierens primitiver Gesellschaften gehört. Der Krieg ist also aus der theoretischen Diskussion der Ethnologie verbannt. Man kann die primitive Gesellschaft denken, ohne gleichzeitig den Krieg denken zu müssen.
Es ist nun zu fragen, ob diese wissenschaftliche Diskussion die Wahrheit über den Gesellschaftstyp ausdrückt, den sie untersucht: halten wir einen Moment inne, um uns der Wirklichkeit zuzuwenden, von der sie spricht.
Die Entdeckung Amerikas hat, wie man weiß, dem Abendland die Möglichkeit gegeben, das erste Mal denjenigen zu begegnen, die man von da an Wilde nennen sollte. Hier wurden die Europäer das erste Mal mit einer anderen Art von Gesellschaft konfrontiert, die so grundsätzlich verschieden war von allem, was sie bis dahin kannten. Sie waren gezwungen, eine gesellschaftliche Wirklichkeit zu denken, die innerhalb ihrer traditionellen Vorstellungen vom gesellschaftlichen Sein keinen Platz finden konnte; mit anderen Worten: für das europäische Denken war die Welt der Wilden absolut undenkbar.
Hier ist nicht der Ort, um die genauen Gründe dieser echten epistemologischen (Red. Anm.: Der Begriff der Épistémologie wird synonym für Erkenntnistheorie verwendet, das Teilgebiet der Philosophie, das sich mit der Frage nach den Bedingungen von begründetem Wissen befasst.) Unmöglichkeit zu untersuchen. Nur so viel dazu: sie hängen mit jener Gewissheit zusammen, die über der gesamten abendländischen Geschichte ausgebreitet liegt und die zu wissen meint, was die menschliche Gesellschaft ist und was sie sein soll, jener Gewissheit, die von der griechischen Morgendämmerung an das europäische Denken über Politik bestimmt, welches im fragmentarischen Werk von Heraklit über die Polis seinen Ausdruck findet.
Diese Vorstellung von Gesellschaft verkörpert sich in Gestalt des Einen, das außerhalb der Gesellschaft steht, in der hierarchischen Anordnung des politischen Raumes, in der Befehlsfunktion des Häuptlings, des Königs oder des Despoten: sie ist nur Gesellschaft unter dem Merkmal von Teilung, ihrer Teilung in Herren und Untertanen.
Durch diese Festlegung vom Gesellschaftlichen folgt, dass eine Gruppierung von Menschen, die diesen Teilungscharakter nicht aufweist, nicht als eine Gesellschaft betrachtet werden kann. Also wen sahen die Entdecker der Neuen Welt am Ufer des Atlantik auftauchen? “Völker ohne Glaube, ohne Gesetz, ohne König.” So sahen sie die Chronisten des 16. Jahrhunderts. Die Ursache dafür war selbstverständlich und klar: diese Menschen im Naturzustand waren noch nicht in den Zustand von Gesellschaft gelangt.
In dieser Einschätzung der brasilianischen Indianer herrscht fast Einstimmigkeit, die nur von den dissonanten Tönen der Herren Montaigne (Red. Anm.: Michel de Montaigne (1533 – 1592) war Jurist, Skeptiker und Philosoph, Humanist und Begründer der Essayistik.) und La Boetie (Étienne de La Boétie (1530 – 1563) war ein französischer Hoher Richter, Gelegenheitsautor und Freund von Michel de Montaigne.) getrübt wird. (Montaigne, franz. Moralist, 1533-1592, er machte eine Reise quer durch Europa, die ihm die Relativität aller menschlichen Dinge vor Augen führte. Er entdeckte die Unmöglichkeit, Wahrheit und Gerechtigkeit zu finden. Trotzdem war er kein Pessimist, sondern er beschloss, dass sich “Die Kunst des Lebens” auf eindringliche Weisheit und Klugheit gründen muss, die vom guten Willen und Toleranz durchdrungen sein sollten. / La Boetie, 1530-1563, franz. Schriftsteller, Stoiker, Freund von Montaigne, er schrieb gegen die Tyrannei.)
Ungetrübte Einstimmigkeit aber herrscht dort, wo es darum geht, quasi als Gegenleistung, die Sitten der Wilden zu beschreiben. Seien es Entdecker oder Missionare, Händler oder gelehrte Reisende: sie alle sind sich seit dem 16. Jahrhundert bis zur erst kürzlich abgeschlossenen Eroberung der Welt in einem einig: seien sie aus Amerika (von Alaska bis Feuerland) oder Afrika, aus sibirischen Steppen oder melanesischen Inseln, seien es Nomaden aus den australischen Wüsten oder sesshafte Ackerbauern aus den Dschungeln Neu-Guineas – immer werden die primitiven Völker als leidenschaftliche dem Krieg verfallen dargestellt.
Ihr besonders kriegerischer Charakter beeindruckt ausnahmslos alle europäischen Forscher und Beobachter. Aus der ungeheuren Ansammlung von Dokumenten, Chroniken, Reiseberichten, Aussagen von Priestern und Pastoren erwächst ein Bild – unbestritten und sofort – aus der unendlichen Mannigfaltigkeit der beschriebenen Kulturen: das des Krieges. Es ist hervorstechend genug, um daraus einen soziologischen Tatbestand abzuleiten: die primitiven Gesellschaften sind gewalttätige Gesellschaften, ihr gesellschaftliches Sein ist ein Sein für den Krieg. Das ist jedenfalls der Eindruck, den in allen Klimata und seit mehreren Jahrhunderten die unmittelbaren Zeugen gewonnen haben, von denen viele lange Jahre am Leben der eingeborenen Stämme teilnahmen. Es wäre genauso leicht wie unnütz, eine Auswahl dieser Einschätzungen zusammenzustellen, die sich auf die Bevölkerung sehr unterschiedlicher Gegenden und Epochen beziehen.
Die aggressiven Neigungen der Wilden werden immer als äußerst rauh eingeschätzt: wie soll man letztendlich die Völker christianisieren, zivilisieren und von den Werten der Arbeit und des Geschäfts überzeugen, die sich hauptsächlich darum kümmern, Krieg gegen ihre Nachbarn zu führen, ihre Niederlagen zu rächen oder ihre Siege zu feiern?
Tatsächlich werden in den Ansichten der französischen und portugiesischen Missionare über die Tupi des brasilianischen Küstenstrichs schon Mitte des 16. Jahrhunderts die kommenden Diskussionen vorweggenommen und zusammengefasst: wäre nicht, so sagen sie, dieser unaufhörliche Krieg, den die einen gegen die anderen Stämme führen, dann wäre das Land überbevölkert. Das offensichtliche Dominieren des Krieges im Leben der primitiven Völker ist es, was in erster Linie die Aufmerksamkeit der Gesellschaftstheoretiker beansprucht. Dem Zustand der Gesellschaftlichkeit, die für ihn Gesellschaft des Staates ist, stellt Thomas Hobbes (Rd. Anm.: Thomas Hobbes (1588 – 1679) war ein englischer Mathematiker, Staatstheoretiker und Philosoph. Er wurde durch sein Hauptwerk Leviathan bekannt, in dem er eine Theorie des „Absolutismus“ entwickelte.) eine nicht reale, sondern logische Konstruktion des Menschen unter natürlichen Bedingungen (condition naturelle) entgegen, einen Menschheitszustand vor dem Leben in der Gesellschaft, das heißt: “unter einer allgemeinen Macht, die sie alle in Schach hält”. Also wodurch zeichnen sich die natürlichen Bedingungen des Menschen aus? Durch “den Krieg aller gegen alle”.
Aber, so wird man entgegnen, dieser Krieg, der die einen gegen die anderen abstrakten Menschen setzt, ist vom Philosophen des bürgerlichen Staates erfunden, um der Sache zu dienen, die er verteidigt. Weiter wird man entgegnen, dass dieser eingebildete Krieg nichts mit der empirischen Wirklichkeit des Krieges in den primitiven Gesellschaften zu tun hat. Das kann sein. Aber trotzdem bleibt, dass Hobbes selbst seine Ableitung zu begründen versucht, indem er sich auf eine konkrete Wirklichkeit bezieht: die natürlichen Bedingungen der Menschen sind nicht nur eine abstrakte Konstruktion eines Philosophen, sondern ein tatsächliches Schicksal, welches man bei einer erst kürzlich entdeckten Menschheit beobachten kann.
“Man könnte glauben, dass weder eine solche Zeit noch ein solcher Kriegszustand jemals existiert hat. Ich glaube wirklich, dass es niemals in dieser Allgemeinheit auf der ganzen Welt so war. Aber es gibt viele Gebiete, wo die Menschen heute noch so leben. In der Tat. In manchen Gebieten Amerikas haben die Wilden – wenn man von der Regierung kleiner Familien absieht, deren gegenseitiges Einverständnis von natürlichen Begierden abhängt – überhaupt keine Regierung und sie leben bis auf den heutigen Tag noch in dieser fast tierischen Art und Weise, die ich oben beschrieben habe.” [1]
Man verwundere sich nicht zu sehr über Hobbes, darüber, wie er so unangegriffen und leicht die Wilden verachten kann; diese Vorstellungen entspringen seiner Zeit (Vorstellungen, wiederholen wir es noch einmal, die von Montaigne und La Boetie jedoch abgelehnt wurden): eine Gesellschaft ohne Staat und Regierung ist keine Gesellschaft; folglich leben die Wilden außerhalb des Gesellschaftlichen, unter natürlichen Menschheitsbedingungen, wo der Krieg jeder gegen jeden regiert.
Hobbes wusste um die starke Kriegsleidenschaft der amerikanischen Indianer; deshalb konnte er in ihren wirklichen Kriegen die offensichtliche Bestätigung seiner Gewissheit sehen: die Abwesenheit des Staates macht die Verallgemeinerung des Krieges möglich und verunmöglicht die Errichtung von Gesellschaft.
Die Gleichung Welt der Wilden = Welt des Krieges, d. h., sich immer wieder auf dem “Schlachtfeld” behaupten müssen, zieht sich quer durch alle Darstellungen primitiver Gesellschaften, seien sie volkstümlich oder gelehrt. So schrieb auch ein anderer englischer Philosoph, Spencer, in seinen Principles of Sociology: “Im Leben der Wilden und Barbaren sind die hervorragendsten Ereignisse die Kriege.”
Das klingt wie ein Echo auf das, was drei Jahrhunderte vor ihm der Jesuit Soarez aus Souza über die Tupinamba Brasiliens gesagt hatte: “Da die Tupinamba sehr kriegerisch sind, beschäftigen sie sich hauptsächlich damit, wie der Krieg gegen ihre Feinde zu führen sei.”
Besitzen aber die Bewohner der Neuen Welt das Monopol auf die Kriegsleidenschaft? Keineswegs. In einer schon alten Arbeit [2] über die Ursachen und die Bedeutung des Krieges in den primitiven Gesellschaften hatte Maurice R. Davie versucht, das systematisch miteinander zu vergleichen, was die Ethnographie seiner Zeit über diesen Gegenstand aussagte. Abgesehen von wenigen Ausnahmen (die Eskimos aus Mittel- und Ostamerika) ergibt sich aus seiner peinlich genauen Forschungsarbeit, dass überhaupt keine primitive Gesellschaft dem Bann der Gewalt entgeht, dass keine unter ihnen ist, für die Gewalt nicht Produktionsweise, techno-ökonomisches System oder ökologisches Umfeld wäre, unter ihnen ist keine, die die kriegerische Entfaltung von Gewalt nicht kennen oder zurückweisen würde, die das Sein selbst jeder betroffenen Gemeinschaft mit in den bewaffneten Konflikt hineinzieht.
Es scheint also sehr wohl begründet, dass man die primitive Gesellschaft nicht denken kann, ohne zugleich an den Krieg zu denken, der, als unmittelbar bekannte Größe der Soziologie primitiver Völker, eine Dimension der Universalität erhält.
Dieser überdeutlich starken Präsenz des Krieges in primitiven Gesellschaften widerspricht das Schweigen der neueren Ethnologie, für die Gewalt und Krieg nur als Beschwörungsmittel dienen. Woher kommt dieses Schweigen?
Zuerst sind da sicherlich die Bedingungen im Spiel, unter denen heutzutage die Gesellschaften leben, mit denen sich die Ethnologen beschäftigen. Man weiß, dass es auf der Erde heute kaum mehr primitive Gesellschaften gibt, die absolut frei, autonom und ohne Kontakt mit der “weißen” sozioökonomischen Umwelt sind. Die Ethnologen haben keinerlei Möglichkeit mehr, so stark isolierte Gesellschaften zu beobachten, dass sich in ihnen das freie Spiel der Kräfte welches sie charakterisieren und stützen würde, entfalten könnte: ihre hundertjährige Abgeschiedenheit hat dieser ohne Zweifel letzten primitiven Gesellschaft erlaubt, bis heute so zu leben, als wäre Amerika nie entdeckt worden. Unter anderem kann man bei ihnen die Allgegenwart des Krieges beobachten. Aber das ist noch lange kein Grund, von ihnen eine karikaturhafte Fratze zu entwerfen, so wie es gewisse Leute tun, bei denen die Lust am Sensationellen die Fähigkeit zum Verständnis eines mächtigen soziologischen Getriebes zum Verschwinden bringt [3].
Kurz, wenn die Ethnologie nicht vom Krieg spricht, dann deswegen, weil sie keine Möglichkeit mehr hat, von ihm zu sprechen. Als die primitiven Gesellschaften Studienobjekte wurden, waren sie schon auf dem Weg der Zerstückelung, der Zerstörung und des Todes gebracht: wie sollten sie den Ethnologen das Schauspiel ihrer freien kriegerischen Vitalität vorführen können?
Aber vielleicht ist das nicht der einzige Grund für das Schweigen der Ethnologen. […]
Weitere Teile
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 2)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 3)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 4)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 5)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 6)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 7)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 8)
Quellen und Anmerkungen
[1] Thomas Hobbes, Leviathan, Ausgabe Sirey, S. 125 ↩ [2] M.R. Davie, La guerre dans les societes primitives, Payot 1931. ↩ [3] vgl. N.A. Chagnon, Yanomamö. The Fierce People, Holt, Rinehart and Winston, 1968. ↩Über den Autor: Pierre Clastres (1934 – 1977) war ein französischer Ethnologe der durch seine Arbeiten zur politischen Anthropologie, sein anarchistisches Engagement und für seine Monographie über die Guayaki (auch Aché genannt), eine indigene Gruppe, die heute im Osten Paraguays lebt und die aufgrund ihrer Lebensweise zu den Jägern und Sammlern gezählt werden, bekannt wurde.
Redaktioneller Hinweis: Das Essay von Pierre Clastres erschien im französischen Original 1977 unter dem Titel Archéologie de la violence. La guerre dans les sociétés primitives in der Zeitschrift Libre. Es wurde als Übersetzung mit dem Titel Archäologie der Gewalt, Die Rolle des Krieges in primitiven Gesellschaften in Autonomie (Nr. 8, August 1977, S. 25–42) veröffentlicht. Der Beitrag wurde von der Anarchistischen Bibliothek archiviert und von Neue Debatte übernommen, um eine kritische Diskussion über die Bedeutung und Hintergründe von Gewalt und Krieg in den Zivilisationen und Massengesellschaften der Gegenwart zu ermöglichen. Der Text wurde redaktionell überarbeitet. Einzelne Absätze wurden eingefügt und Abschnitte zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben.
Foto: Neue Debatte
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Eine Antwort auf „Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 1)“
Ich möchte keinen Kommentar zu dem gesamten Beitrag eingeben, sondern nur etwas darüber, warum Kriege geführt werden und, um darüber nachzudenken, ob Kriege notwendig sind oder nicht
Michel de Montaigne stellt in einem Brief folgende Frage : “Ich möchte gerne wissen, ob wir den Krieg, die größte und prächtigste unter allen menschlichen Handlungen, zum Beweis eines gewissen uns eigenen Vorzugs oder vielmehr Gegenteils zum Zeugnis unserer Schwachheit und Unvollkommenheit gebrauchen wollten. In der Tat, die Wissenschaft, uns selbst untereinander zu ermorden und umzubringen und unsere eigene Art zu verderben und auszurotten, scheint gar nicht so beschaffen zu sein, dass die Tiere, welche sie nicht besitzen, ein großes Verlangen danach tragen sollten.”
Der Volksmund sagt, dass Tiere den Krieg nicht kennen, damit kann gemeint sein, dass es durchaus nicht in der Natur des Menschen liegt, Kriege zu führen. Sollte es also eine kulturelle Leistung sein? Treiben die Menschen als Naturwesen aus naturwüchsig unvollkommenem Entwicklungsstadium heraus Kriege? Müssen die Menschen etwa den Krieg zunächst kultivieren, um dadurch auf friedliche Vollkommenheit hinzuwirken? Ist Krieg also eine historisch bedingte und vorübergehende Notwendigkeit auf dem Entwicklungsweg der Menschheit?
Thomas Morus’ Utopier scheinen dem zu entsprechen, dass Krieg auch notwendig sein kann. Er schreibt in seinem 1516 veröffentlichten Buch Utopia: “Den Krieg verabscheuen die Utopier als etwas geradezu Bestialisches, womit sich gleichwohl keine Gattung wilder Tiere so häufig zu schaffen macht, wie der Mensch. Entgegen den Sitten fast aller andern Völker halten sie nichts für so unrühmlich, als den im Kriege erstrebten Ruhm.
Nichtsdestoweniger jedoch üben sie sich sehr eifrig in soldatischer Zucht und zwar nicht nur die Männer, sondern an bestimmten Tagen auch die Frauen, damit im Falle der Not auch sie zum Kriege nicht untüchtig sind.” Sie würden einen Krieg aber nicht blindlings beginnen, “sondern entweder, um ihre Grenzen zu schützen oder um die das Gebiet ihrer Freunde überschwemmenden Feinde zurückzuschlagen oder um irgend ein von Tyrannei bedrücktes Volk, dessen sie sich erbarmen, vom Joche eines Tyrannen und der Sklaverei zu befreien, was sie aus purer Menschenliebe unternehmen”.
Wiewohl die Utopier den Freunden im Punkte der Hilfe zu Willen seien, geschehe dies nicht immer nur zu deren Verteidigung, “sondern sie gewähren die Hilfe zuweilen auch, damit diese zugefügtes Unrecht vergelten oder vergelten können. Dieses aber tun sie nur dann, wenn sie gleich von Anfang an um Rat gefragt werden, die Sache als eine gerechte gebilligt haben und die zurückverlangten Dinge nicht wieder zurückerstattet worden sind. Dann eröffnen die Utopier selbst den Krieg, wozu sie sich nicht bloß dann entscheiden, wenn bei einem feindlichen Einfalle Beute weggeführt worden ist, sondern noch viel energischer, wenn ihre Kaufleute bei irgend einem Volke entweder unter dem Vorwande unbilliger Gesetze oder durch üble Auslegung guter Gesetze, unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit verleumderisch angeklagt werden.”
Soweit der Rückblick, wie in vergangenen Zeiten Kriege als sinnvoll oder sinnlos bewertet wurden. Aber wie sollte man heutzutage diese Frage beantworten?
“Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen macht er zu Göttern, die anderen zu Menschen, die einen zu Sklaven, die anderen zu Freien”, schreibt Heraklit aus Ephesos in seinen Fragmenten. Mit “Vater aller Dinge” ist wohl eher der produktive Kampf um die Lösung der alles in der Welt verursachenden Widersprüche gemeint und nicht nur die kriegerische, gewalttätige, bewaffnete Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Menschen.
Ob gerecht oder ungerecht, grausam in den Mitteln oder nach Konventionen zelebriert: Kriege werden stets bewusst vorbereitet und geführt. Nur der Mensch hat den Willen, sich für oder gegen den Krieg zu entscheiden, ihn zu führen oder es zu unterlassen.