Kurz, wenn die Ethnologie nicht vom Krieg spricht, dann deswegen, weil sie keine Möglichkeit mehr hat, von ihm zu sprechen. Als die primitiven Gesellschaften Studienobjekte wurden, waren sie schon auf dem Weg der Zerstückelung, der Zerstörung und des Todes gebracht: wie sollten sie den Ethnologen das Schauspiel ihrer freien kriegerischen Vitalität vorführen können?
Aber vielleicht ist das nicht der einzige Grund für das Schweigen der Ethnologen. Man kann letztlich annehmen, dass sie, seitdem sie sich am Werk befinden, die ausgewählte Gesellschaft nicht nur in ihre Notizbücher und auf ihre Tonbänder festlegten, sondern auch in eine vorher erworbene Konzeption über das gesellschaftliche Sein primitiver Gesellschaften einbauten.
Infolgedessen auch in eine Konzeption über den Zustand ihrer Gewalt; in eine Konzeption über die Ursachen ihrer Entfesselung und die Wirkungen, die sie hervorbringt.
Keine allgemeine Theorie der primitiven Gesellschaft kann zum Abschluss kommen, ohne nicht dem Krieg Rechnung zu tragen. Es ist nicht nur so, dass die theoretische Diskussion über den Krieg ein Teil der Diskussion über die Gesellschaften ist, sondern die erste bestimmt die Richtung der zweiten: die Vorstellung über den Krieg bemisst und bestimmt die Vorstellung über die Gesellschaft.
So könnte die fehlende Behandlung der Gewalt in der zeitgenössischen Ethnologie nicht nur mit dem Verschwinden des Krieges erklärt werden. Dem Verschwinden, dem der Verlust der Freiheit folgte und der die Wilden in einen gezwungenen Pazifismus hineinzwängte. Sondern ebenso auch damit, dass die zeitgenössische Ethnologie einer Art soziologischen Ansatz anhängt, der den Krieg aus dem Bereich der sozialen Beziehungen in den primitiven Gesellschaften ausschließt.
Es stellt sich folglich die Frage, ob solch ein Ansatz der primitiv-gesellschaftlichen Wirklichkeit angemessen ist. Daher soll sich jetzt – und sei es auch nur kurz – mit den gängigen Ansätzen über Gesellschaft und Krieg bei den Primitiven auseinandergesetzt werden, bevor diese Wirklichkeit selbst befragt wird.
Diese Ansätze entwickeln sich in drei große unterschiedliche Richtungen: es gibt über den Krieg einen naturalistischen Ansatz (discours naturaliste), einen ökonomischen (dis cours economiste) und einen Ansatz, der vom Tausch ausgeht (discours echangiste).
Insbesondere im vorletzten Kapitel des Werkes von A. Leroi-Gourhan (Le Geste et la Parole) ist der naturalistische Ansatz mit eigentümlicher Entschlossenheit formuliert worden. (Red. Anm.: André Leroi-Gourhan (1911 – 1986) war ein französischer Archäologe, Paläontologe, Paläontologe, Paläanthropologe und Ethnologe mit einem Interesse an Technologie und Ästhetik und einem Hang zur philosophischen Reflexion.) Hier entwickelt der Autor seinen historisch-ethnologischen Ansatz über die primitive Gesellschaft und der sie umgestaltenden Veränderungen mit unbestreitbarer (aber sehr wohl anfechtbarer) Fülle und Beredsamkeit.
Gemäß der unlösbaren Verbindung zwischen archaischer Gesellschaft und kriegerischer Erscheinung schließt das allgemeine Unterfangen Leroi-Gourhans logischerweise eine Betrachtung über den primitiven Krieg mit ein. Betrachtet unter einem Blickwinkel, der ausreichend in dem Geist zu erkennen ist, der das ganze Werk durchzieht und der sich in der Kapitelüberschrift ausdrückt: der soziale Organismus.
Dieser organizistische Ansatz, der unverkennbar von Leroi-Gourhan behauptet wird, schließt eine in sich schlüssige Vorstellung von Krieg ein. Was ist also nach Leroi-Gourhan Gewalt? Seine Antwort ist klar und eindeutig: “Aggressives Verhalten gehört spätestens seit den Australmenschen zur menschlichen Wirklichkeit und auch die beschleunigte Entwicklung der Gesellschaft hat nichts an ihrer Verbreitung und heranreifenden Verzweigung geändert.” (S. 237)
Aggression als Verhaltensweise, d. h. Gebrauch der Gewalt, ist also auf die Menschheit als Gattung bezogen, sie breitet sich gleichzeitig mit ihr aus. Im Großen und Ganzen eine Art zoologische Eigentümlichkeit der menschlichen Gattung, wird Gewalt als nicht wieder rückgängig zu machendes Gattungsmerkmal identifiziert, als natürliche Größe, die ihre Wurzeln im biologischen Sein des Menschen hat.
Diese spezifische Gewalt, die sich im aggressiven Verhalten ausdrückt, ist nicht ohne Grund und Ziel, sie ist immer auf einen Zweck hin ausgerichtet:
“Seit ewigen Zeiten erscheint die Aggression als eine Technik, die grundsätzlich an die Beschaffung von Dingen (l’acquisation) gebunden ist. Beim Primitiven besteht sie aus Jagd, in der sich Aggression und Lebensmittelbeschaffung verbinden.” (S. 236)
Dem Menschen als natürliches Sein inhärent, bestimmt sich Gewalt also als ein Mittel zum Überleben, als ein Mittel, den Lebensunterhalt zu sichern, als das Mittel für ein Ziel, welches natürlicherweise im Herzen eines jeden lebenden Organismus eingeschrieben steht: überleben.
An dieser Stelle wird die Ökonomie der Primitiven als Ökonomie des Raubes identifiziert. Der primitive Mensch ist, sofern er Mensch ist, dem aggressiven Verhalten unterworfen; insofern er primitiv ist, ist er zugleich dazu fähig und entschlossen, seine Natürlichkeit und seine Menschlichkeit (seine ursprüngliche und menschliche Natur / naturalité et humanité) in einer schon damals nützlichen und einträglichen Aggressivität zusammenzufassen, in ein Handwerk zu verwandeln: er ist Jäger.
Lassen wir einmal diese Verbindung gelten. Diese Verbindung zwischen der Gewalt, die im Handwerk der Lebensmittelbeschaffung diszipliniert ist und dem biologisch determinierten Sein des Menschen, dessen Unversehrtheit, dessen Integrität er missionarisch aufrecht zu erhalten hat. Aber wo sitzt nun diese besondere Aggression, die sich in der kriegerischen Gewalt ausdrückt? Leroi-Gourhan erklärt es uns so:
“Zwischen der Jagd und ihrer Doublette, dem Krieg, stellt sich allmählich in dem Masse eine feine Angleichung (assimilation) her, in dem sowohl die eine als auch die andere in einer Klasse Mensch verschmilzt, die durch die neue Ökonomie geboren wird, die Klasse der bewaffneten Menschen.” (S. 237)
Hier lüftet sich also in einem einzigen Satz das Geheimnis über den Ursprung der gesellschaftlichen Teilung: durch “feine Angleichung” (?) werden die Jäger Stück für Stück zu Kriegern, die, als Inhaber der gesellschaftlichen Gewalt, von da an die Mittel besitzen, um zu ihren Gunsten die politische Macht über den Rest der Gemeinschaft auszuüben.
Es ist erstaunlich, wie locker dieser Gelehrte, dessen Werk für sein Fach (Vorgeschichte) als exemplarisch anzusehen ist, solche Äußerungen niederschreibt.
Mit alldem müsste man sich besonders beschäftigen, aber es ist schon jetzt eindeutig, welche Lehre daraus gezogen werden kann: es ist mehr als unüberlegt, bei der Analyse menschlicher Faktoren von Kontinuierlichkeit auszugehen, das Soziale auf das Natürliche, das Institutionalisierte auf das Biologische zurückzuführen und einzuschränken. Die menschliche Gesellschaft entspringt nicht der Zoologie, sondern der Soziologie.
Kehren wir wieder zum Krieg zurück. Dieser soll also die Bürde seiner Aggressivität von der Jagd ererbt haben – Handwerk der Lebensmittelbeschaffung – und nichts anderes als eine bloße Wiederholung, eine “Doublette”, eine Weiterentwicklung der Jagd sein; prosaischer ausgedrückt: für Leroi-Gourhan ist der Krieg die Jagd auf den Menschen.
Stimmt das oder stimmt das nicht? Das ist schwer zu sagen, da es ja genügt, diejenigen selbst zu befragen, von denen Leroi-Gourhan glaubt zu reden: die Primitiven der heutigen Zeit.
Was lehren uns die ethnographischen Erfahrungen? Wenn der Zweck der Jagd die Beschaffung der Nahrungsmittel ist, dann ist das Mittel dazu eine Aggression: um das Tier essen zu können, muss man es töten. Aber dann müssen auch alle anderen destruktiven Verhaltensweisen, die einer anderen Lebensweise entsprechen, der Jagd zum Zweck der Lebensmittelbeschaffung zugerechnet werden, nicht nur bei den fleischfressenden Tieren, Fischen und Vögeln, sondern auch bei den insektenfressenden Tieren (das Vöglein ist aggressiv gegen die Mücke, die es runterschluckt etc.). Dementsprechend müssten alle Arten der gewaltsamen Lebensmittelbeschaffung logischerweise in den Terminologien von aggressiven Verhaltensweisen analysiert werden; es gäbe keinen Grund, den menschlichen gegenüber dem tierischen Jäger zu bevorzugen. Wirklich, das, was den primitiven Jäger unter Ausschluss aller anderen Gefühle vorerst treibt und motiviert, ist sein Appetit (der Fall ritueller Jagd, die nicht der Lebensmittelbeschaffung dient, entfaltet sich in einem anderen Bereich).
Was den Krieg radikal und von Anfang an von der Jagd unterscheidet, ist das Vorhandensein einer Dimension, die bei der Jagd fehlt und auf der der Krieg gänzlich beruht: die Aggressivität. Und so reicht es nicht, dass ein und derselbe Mensch einen Affen oder einen Menschen töten könnte, um die Jagd und den Krieg miteinander zu identifizieren.
Deswegen kann man sie also nicht aufeinander beziehen: der Krieg ist eine reine Verhaltensweise der Aggression und der Aggressivität. Wenn der Krieg die Jagd ist, dann wäre er also die Jagd auf Menschen; zum Beispiel würde so auch umgekehrt die Jagd auf den Büffel zum Krieg.
Sofern nicht unterstellt werden kann, dass der Zweck des Krieges immer der der Ernährung ist, und dass das Objekt dieser Aggressionsart der Mensch ist, zum Verzehr bestimmt wie das Wild, insofern ist die Zurückführung des Krieges auf die Jagd ohne Grundlage. Denn wenn der Krieg die “Doublette” der Jagd wäre, dann wäre die allgemeine Menschenfresserei der Endpunkt. Man weiß sehr gut, dass das nicht stimmt: selbst bei den kannibalischen Stämmen ist der Zweck des Krieges nie, die Feinde zu töten, um sie zu verzehren.
Weiter: die “Biologisierung” solch einer Tätigkeit wie der des Krieges führt unweigerlich dazu, die eigentlich gesellschaftliche Dimension des Krieges zu verlieren. Der besorgniserregende Ansatz von Leroi-Gourhan löst die Soziologie in die Biologie auf, transformiert die Gesellschaft in einen sozialen Organismus und lässt alle Versuche, eine nicht zoologische Diskussion über die Gesellschaft zu führen, schon von vornherein als vergeblich erscheinen. Demgegenüber muss festgestellt werden, dass der Krieg der primitiven Völker nichts mit der Jagd zu tun hat, dass er nicht im Menschen als etwas Gattungsspezifisches verwurzelt ist, sondern im sozialen Sein der primitiven Gesellschaft, die deutlich macht, dass die Universalität des Krieges nicht auf die Natur, sondern auf die Kultur verweist.
Der ökonomische Ansatz ist insofern anonym, als er nicht das bestimmte Werk eines bestimmbaren Theoretikers ist, sondern viel eher der Ausdruck einer allgemeinen Überzeugung, einer vagen Gewissheit – der Ausdruck des gesunden Menschenverstandes. Dieser “Ansatz” entstand im 19. Jahrhundert, als man in Europa begann, die Vorstellung von Wildheit und die von Glück voneinander zu trennen, als man, zu Recht oder zu Unrecht, den Glauben verließ, dass das primitive Leben das glückliche sei.
Man verkehrte den alten Ansatz in sein Gegenteil: von da an ist die Welt der Wilden, zu Recht oder zu Unrecht, eine Welt des Elends und des Unglücks gewesen. […]
Weitere Teile
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 1)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 3)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 4)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 5)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 6)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 7)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 8)
Über den Autor: Pierre Clastres (1934 – 1977) war ein französischer Ethnologe der durch seine Arbeiten zur politischen Anthropologie, sein anarchistisches Engagement und für seine Monographie über die Guayaki (auch Aché genannt), eine indigene Gruppe, die heute im Osten Paraguays lebt und die aufgrund ihrer Lebensweise zu den Jägern und Sammlern gezählt werden, bekannt wurde.
Redaktioneller Hinweis: Das Essay von Pierre Clastres erschien im französischen Original 1977 unter dem Titel Archéologie de la violence. La guerre dans les sociétés primitives in der Zeitschrift Libre. Es wurde als Übersetzung mit dem Titel Archäologie der Gewalt, Die Rolle des Krieges in primitiven Gesellschaften in Autonomie (Nr. 8, August 1977, S. 25–42) veröffentlicht. Der Beitrag wurde von der Anarchistischen Bibliothek archiviert und von Neue Debatte übernommen, um eine kritische Diskussion über die Bedeutung und Hintergründe von Gewalt und Krieg in den Zivilisationen und Massengesellschaften der Gegenwart zu ermöglichen. Der Text wurde redaktionell überarbeitet. Einzelne Absätze wurden eingefügt und Abschnitte zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben.
Foto: Neue Debatte
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