Seit der Antike haben sich diejenigen, die sich der Erziehung und Bildung von Menschen verschrieben hatten und die man zwischenzeitlich einmal Pädagogen nannte, Gedanken darüber gemacht, wann, wie und mit welchen Mitteln sie helfen konnten, dass sich das Individuum, die Gesellschaft und die Gattung weiterentwickeln.
1989 als Banalität
Den großen Pädagogen kam es immer auf Menschenbildung und Freiheit an, nicht auf Zucht und Organisation. Folglich waren sie nicht missgestimmt über Fehler, die die ihnen Anvertrauten machten, denn das gehört zum Lernprozess dazu. Was sie alle grämte, war jeweils der Umstand, wenn Menschen nicht das aus sich machten, was ihre Möglichkeiten ihnen boten. Wer unter seinen Möglichkeiten blieb, der erzürnte sie und ließ sie an ihren eigentlichen Fähigkeiten zweifeln.
Angesichts der Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag dessen, was als Mauerfall in die jüngere deutsche Geschichte einging, kam mir obiger Gedanke. Das, was in diesen Tagen als Zeugnisse der Geschichte präsentiert wird, ist oberflächlich und grotesk banal. Da werden immer wieder die Geschichten aufgetischt, wer gerade wo war, als er oder sie erfuhr, was da in Berlin passierte und was das alles für ein Wahnsinn war. „Ich aß gerade eine Frikadelle, als mein Freund mich anrief und mir sagte, ich solle den Fernseher anschalten!“
Substanziell findet sich wenig. Es existierten unzählige Gründe, warum die DDR scheiterte oder vielleicht scheitern musste und es existierten unzählige Gründe, warum sie dann so abgewickelt wurde, wie es geschah. Folien, die einseitig das Gute oder das Böse beschreiben, helfen bei einer seriösen Analyse wenig. Das, was als Quintessenz präsentiert wird, ist allerdings beschämend. So flach waren die Deutschen nie, als dass ein aufgeladener Triumphalismus die Geschehnisse umfassend beschreiben könnte. Sie schrieben Heldenepen und Tragödien; erstere zumeist in der Literatur und letztere zumeist im richtigen Leben.
Die Vollstrecker
Ich habe mir die Mühe gemacht und in den Journalen der Monate, in denen die DDR einstürzte und die Chancen einer Vereinigung der gespaltenen Nation stiegen, noch einmal zu lesen. Was aus heutiger Sicht bestürzt, sind die Hoffnungen, die sich in beiden Teilen des gespaltenen Landes damit verbanden. Es war eine Stimmung des Aufbruchs und es ging um eine neue Sozial- wie eine neue Friedensordnung. Das war, betrachtet man den weiteren Verlauf der Geschichte, sehr naiv. Allerdings nur unter dem Aspekt, dass viele glaubten, die Regierungen würden es schon richten.
Im Osten dachten wohl viele, die Arbeit sei verrichtet und im Westen verfiel man dem gleichen Irrglauben. Statt den politischen Widerstand gemeinsam weiter zu leisten, wurde er im Konsumismus domestiziert und alles in die Hände überforderter Mandatsträger gelegt.
Die Erkenntnis, dass nur die eigene Aktion in der Lage ist, die Verhältnisse, in denen man lebt, zu einem besseren Zustand zu machen, war zu lange verdeckt. Das Ergebnis ist eine ökonomische, soziale, politische und kulturelle Verwüstung der Gesellschaft, wie sie nur ein nahezu ungezügelter Wirtschaftsliberalismus mit einer preußischen Bürokratie als Vollstrecker fertig bringen kann. Die Ursachen liegen nicht nur in der Boshaftigkeit seiner Vertreter, sondern auch in der Passivität der Opfer.
Die Ablenkung
Die eingangs erwähnten großen Pädagogen würden sich grämen, verglichen sie die Möglichkeiten, die sich den Deutschen im Jahre 1989 ff. boten und dem, was sie daraus machten. Und sie würden regelrecht wütend, von welchem Tand1Tand ist eine altertümliche Bezeichnung für ein nutzloses Ding, das keinen Wert hat. und mit welcher Leichtigkeit sie von dem abgelenkt werden konnten, was zu tun war, um aus der Geschichte zu lernen. So bitter auch die Erkenntnis ist, mit jeder Einsicht beginnt ein neuer Lernprozess.
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.