Der Ansatz über den Krieg bei primitiven Völkern, der vom Tausch ausgeht, wird vom soziologischen Ansatz des Claude Lévi-Strauss (Red. Anm.: Claude Lévi-Strauss (1908 – 2009) war ein französischer Ethnologe. Er gilt als Begründer des ethnologischen Strukturalismus.) getragen. Auf den ersten Blick erscheint folgende Behauptung paradox: im beachtlichen Werk dieses Autors nimmt der Krieg im Großen und Ganzen nur einen geringen Platz ein. Doch sehen wir einmal davon ab, dass die Bedeutung eines Themas sich nicht notwendigerweise am Raum misst, dem man ihm zubilligt.
Bei Lévi-Strauss ist es nun so, dass die von ihm entwickelte Gesellschaftstheorie, mit Einschränkungen, von seiner Konzeption der Gewalt abhängt: Wenn von dieser Konzeption die Rede ist, dann geht es letztlich um die gesamte strukturalistische Theorie über das gesellschaftliche Sein der Primitiven. Es geht nun darum, zu prüfen, inwieweit diese Konzeption brauchbar ist.
Lévi-Strauss behandelt die Frage des Krieges in einem einzigen Text, in dem er das Verhältnis zwischen Krieg und Handel bei südamerikanischen Indianern analysiert [8]. In dieser Analyse untersucht er den Krieg im Rahmen gesellschaftlicher Beziehungen: “Bei den Nambikuara, wie ohne Zweifel bei vielen Völkern des vor-kolumbianischen Amerikas, bilden Krieg und Handel derart zusammengehörige Tätigkeiten, dass es nicht möglich ist, sie getrennt zu untersuchen.” (S. 136)
Und weiter: “… Im Amerika des Südens bilden die kriegerischen Auseinandersetzungen und die wirtschaftlichen Tauschhandlungen nicht nur zwei Typen miteinander zusammenhängender Beziehungen, sondern sie sind vielmehr zwei entgegengesetzte und gleichzeitig untrennbar miteinander verbundene Aspekte ein und desselben gesellschaftlichen Prozesses.” (S. 138)
Nach Lévi-Strauss kann man also Krieg nicht für sich allein denken. Er besitzt keine eigenen besonderen Eigenschaften und kann, weit entfernt davon, für sich eine besondere Untersuchung zu beanspruchen, im Gegenteil nur im “Zusammenhang aller Elemente des gesellschaftlichen Ganzen” (S. 138) verstanden werden. Es gibt also in der primitiven Gesellschaft keine Autonomie des Bereichs der Gewalt: Gewalt bekommt nur einen Sinn innerhalb des allgemeinen Beziehungsgeflechts, welches die Gruppen umfasst; sie ist nur ein besonderer Teil des gesamten Systems.
Wenn Lévi-Strauss damit sagen will, dass der Krieg bei den primitiven Völkern sich im soziologischen Bereich abspielt, dann wird das keiner bezweifeln – außer Leroi-Gourhan, der ja die kriegerische Tätigkeit in die biologische Ordnung aufgelöst hat. Lévi-Strauss lässt es aber nicht bei dieser vagen Verallgemeinerung bewenden: er bringt im Gegenteil eine genaue Vorstellung über die Art und Weise, in der die primitiven Gesellschaften funktionieren, jedenfalls die der amerikanischen Indianer. Die Entschlüsselung dieser Funktionsweise erhält ein ungeheures Gewicht, die sie (die Funktionsweise) die Natur und die Tragweite von Gewalt und Krieg bestimmt, da sie diese in ihrem Sein festlegt.
Wie stellt sich für Lévi-Strauss das Verhältnis zwischen Krieg und Gesellschaft dar? Die Antwort ist klar und deutlich: “Die kommerziellen Tauschhandlungen sind potentielle Kriege, die auf friedliche Art und Weise schon fest beschlossen sind und die Kriege sind das Ergebnis missglückter Transaktionen.” (S. 136)
Für Lévi-Strauss findet Krieg nicht nur im Bereich des Soziologischen statt, sondern er erhält sein Sein und seine Bedeutung letztendlich in einer besonderen Art und Weise des Funktionierens der primitiven Gesellschaft: die Beziehungen zwischen den Gemeinschaften (Stämme, Horden, räumlich gebundene Gruppen) sind zuallererst kommerzieller Art, und Erfolg oder Misserfolg dieser Handelsbeziehungen entscheiden über Frieden oder Krieg zwischen den Stämmen.
Es geht nicht nur darum, Handel und Krieg im Zusammenhang zu denken, sondern der Handel erhält, im Vergleich zum Krieg, eine soziologische Priorität, die im Herzen des gesellschaftlichen Seins ihren Platz erhält. Fügen wir noch hinzu, dass die Vorstellung einer Verbindung zwischen Krieg und Handel nichts Neues und in Wirklichkeit eine ethnologische Banalität ist, und dass sie im gleichen Zusammenhang steckt wie die Überzeugung von den eng begrenzten Möglichkeiten der Ökonomie primitiver Gesellschaften.
So beschreibt M. Davie mit genau den gleichen Worten wie Lévi-Strauss die innere Beziehung zwischen Krieg und Handel: “Bei den primitiven Völkern ist der Handel oftmals eine Alternative zum Krieg, und die Art und Weise, in der er geführt wird, zeigt, dass er ein modifizierter Krieg ist.” (a.a.O., S. 302)
Aber, so könnte man entgegnen, dieser so winzige Ausschnitt stellt nicht die gesamte Gesellschaftstheorie in Frage, die Lévi-Strauss unter anderen Gesichtspunkten und in anderen Bereichen in seinen Arbeiten entwickelt hat. Das ist nur allzu richtig. Jedoch sind die theoretischen Schlussfolgerungen dieses so anspruchslosen Textes vollständig im großen soziologischen Werk von Lévi-Strauss (Les structures élémentaires de la parenté) wiederholt und beschließen eines seiner wichtigsten Kapitel, Le principe de réciprocité: “Es existiert eine Verbindung, es existiert ein Zusammenhang zwischen feindschaftlichen Beziehungen und der wechselseitigen Belieferung: die Tauschhandlungen sind Kriege, die auf friedliche Art und Weise beschlossen werden, die Kriege sind das Ergebnis missglückter Transaktionen.” [9]
Ein wenig später; aber noch auf der gleichen Seite, gibt Lévi-Strauss den Gedanken an kommerziellen Handel auf – und zwar ohne Kommentar. Er beschreibt jetzt den Tausch von Geschenken zwischen fremden Indianergruppen und ist darum bemüht, seine Nachlässigkeit in Bezug auf den Handel wiedergutzumachen: “Es handelt sich folglich um gegenseitige Geschenke und nicht um kommerzielle Unternehmungen.” Untersuchen wir das.
Die Beharrlichkeit, mit der Lévi-Strauss gegenseitige Geschenke von kommerziellen Unternehmungen unterscheidet, ist durchaus legitim. Dadurch wird er aber nicht der Aufgabe enthoben, zu erklären, warum er schnell einen Umweg durch die ökonomische Anthropologie gemacht hat.
Da das materielle Leben der primitiven Gesellschaften sich auf der Basis des Überflusses entwickelt, weist die Hauswirtschaftliche Produktionsweise unter anderem ein wesentliches Merkmal auf (welches von Sahlins hervorgehoben wurde): sie untersteht dem Ideal der Autarkie – jede Gemeinschaft trachtet danach, alles zur Erhaltung ihrer Mitglieder Notwendige selbst zu produzieren. Die Ökonomie der primitiven Gesellschaften ist darauf ausgerichtet, sie geschlossen zu halten. Und weiter: im Ideal der ökonomischen Autarkie steckt noch ein anderes, dessen Mittel ist: das Ideal der politischen Unabhängigkeit. Indem die primitive Gesellschaft (Dorf, Horde et cetera) beschließt, von nichts anderem als von sich selbst abhängig zu sein, schließt sie dadurch die Notwendigkeit ökonomischer Beziehungen mit benachbarten Gruppen ebenfalls aus.
Nicht aus der Not heraus entstehen also die “internationalen” Beziehungen in der primitiven Gesellschaft, die ja gerade fähig ist, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dazu gezwungen zu sein, um den Beistand anderer zu bitten: man produziert alles, was man braucht (Lebensmittel und Werkzeuge), man ist in der Lage, andere entbehren zu können. Das autarke Ideal ist also ein antikommerzielles Ideal. Vollkommen als Ideal ist es nicht immer und überall verwirklicht. Aber man kann von den Wilden sagen, dass sie, wenn es die Umstände erfordern, ohne andere auskommen können.
Gerade weil die hauswirtschaftliche Produktionsweise Handelsbeziehungen ignoriert, versucht sie, unter Ausschluss zu funktionieren: ihrem Sein nach lehnt die primitive Gesellschaften das dem Handel immanente Risiko ab, von ihrer Autonomie entfremdet zu werden, ihre Freiheit zu verlieren.
Deswegen hütet sich der Lévi-Strauss der Structures auch mit Recht davor, das zu wiederholen, was er in Guerre et commerce geschrieben hat … Wenn man von ihm trotzdem etwas über den Krieg bei primitiven Völkern lernen will, dann muss man es vermeiden, den Krieg einem Handel zuzuschreiben, der nicht existiert.
Folglich ist es nicht mehr der Handel, der dem Krieg einen Sinn gibt, sondern der Tausch. Die Deutung des Krieges hängt also ab von der Gesellschaftskonzeption, die vom Tausch ausgeht, darin ein Zusammenhang zwischen Krieg (“Ergebnis missglückter Transaktionen”) und Tausch (“friedlich beschlossene Kriege”) behauptet wird. Aber auch in der Theorie, die vom Tausch ausgeht, wird der Krieg, wie in der ersten Fassung der Gewalttheorie von Lévi-Strauss, als ein möglicher, aber nicht erfolgter Tausch angesehen. Ansonsten erhält der Tausch die gleiche Priorität wie der Handel.
Krieg ist also als ein Missratener Tausch zu denken. Der Krieg als solcher besitzt keinerlei Positivität, in ihm drückt sich nicht das gesellschaftliche Sein der primitiven Gesellschaft aus, sondern nur die Nicht-Verwirklichung dieses Seins, welches ein Sein-für-den-Tausch ist: der Krieg, das ist die Negation, das ist das Negativ der primitiven Gesellschaft, insofern er der bevorzugte Ort des Tausches ist, im gleichen Masse wie der Tausch das eigentliche Wesen der primitiven Gesellschaft ist.
Nach dieser Konzeption wäre Krieg, als ins Schleudern gekommener Tausch, das Nicht-Wesen, das Nicht-Sein der primitiven Gesellschaft. Er ist demzufolge ein Zusatz, eine Nebensache im Vergleich zur Hauptsache. Das, wonach die primitive Gesellschaft strebt, ist der Tausch: er ist ihre soziologische Bestimmung, die sie zu verwirklichen sucht, sie auch fast immer verwirklichen kann, außer dann, wenn ein Unfall geschieht. Dann entstehen Gewalt und Krieg.
Die Logik dieser Konzeption führt zu einer Schein Auflösung des kriegerischen Phänomens. Der Krieg, jeglicher Positivität entkleidet durch die Priorität des Tauschs, verliert jede institutionelle Dimension. Er gehört nicht zum Sein der primitiven Gesellschaft, er ist nur eine zufällige, gefährliche, aber unwesentliche Eigentümlichkeit von ihr.
Die primitive Gesellschaft kann ohne Krieg gedacht werden. Dieser Ansatz, der vom Tausch ausgeht, der in der allgemeinen Theorie von Lévi-Strauss über die primitive Gesellschaft enthalten ist, trägt den ethnographischen Angaben nicht Rechnung: dass nämlich der Krieg in den untersuchten Gesellschaften ein fast universelles Phänomen ist, sei er nun als ihre natürliche Umwelt oder als sozio-ökonomische Organisationsweise beschrieben; dass es eine, natürlich unterschiedliche, Intensität kriegerischer Aktivitäten gibt. Die Konzeption, die vom Tausch ausgeht, und ihr Objekt, der Krieg, schließen sich gewissermaßen gegenseitig aus.
Die Wirklichkeit der primitiven Gesellschaft überflutet die theoretische Diskussion von Lévi-Strauss. Nicht weil er nachlässig oder ignorant ist, sondern weil es unmöglich ist, den Krieg zu verstehen mit einer Gesellschaftsanalyse, die darauf angelegt ist, die soziologischen Funktionen des Krieges in der primitiven Gesellschaft auszuschließen. […]
Weitere Teile
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 1)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 2)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 3)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 5)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 6)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 7)
Pierre Clastres – Archäologie der Gewalt (Teil 8)
Quellen und Anmerkungen
[8] C. Lévi-Strauss, “Guerre et commerce chez les Indiens de l’ Amérique du Sud”, in: Renaissance, Band 1, New York, 1943. ↩ [9] ders., Elémentaires de la parenté, in der ersten Ausgabe. (P. U. F ., 1949) S. 86, in der zweiten Ausgabe (Mouton, 1967) S. 78. ↩Über den Autor: Pierre Clastres (1934 – 1977) war ein französischer Ethnologe der durch seine Arbeiten zur politischen Anthropologie, sein anarchistisches Engagement und für seine Monographie über die Guayaki (auch Aché genannt), eine indigene Gruppe, die heute im Osten Paraguays lebt und die aufgrund ihrer Lebensweise zu den Jägern und Sammlern gezählt werden, bekannt wurde.
Redaktioneller Hinweis: Das Essay von Pierre Clastres erschien im französischen Original 1977 unter dem Titel Archéologie de la violence. La guerre dans les sociétés primitives in der Zeitschrift Libre. Es wurde als Übersetzung mit dem Titel Archäologie der Gewalt, Die Rolle des Krieges in primitiven Gesellschaften in Autonomie (Nr. 8, August 1977, S. 25–42) veröffentlicht. Der Beitrag wurde von der Anarchistischen Bibliothek archiviert und von Neue Debatte übernommen, um eine kritische Diskussion über die Bedeutung und Hintergründe von Gewalt und Krieg in den Zivilisationen und Massengesellschaften der Gegenwart zu ermöglichen. Der Text wurde redaktionell überarbeitet. Einzelne Absätze wurden eingefügt und Abschnitte zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben.
Grafik: Neue Debatte
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