Ein ehemals prominenter Sozialdemokrat schrieb in seinen Memoiren, dass während seiner aktiven Zeit eines seiner Traumata aus dem Auftreten der Traditionalisten entstanden war. Immer, wenn er zu Parteiveranstaltungen vor Ort gegangen sei, hätten sie dort gesessen, immer gewusst, was zu machen sei, mit einbetoniertem Kompass.
Der einbetonierte Kompass
Das Bild hat Wucht. Wer sich jetzt die Hände reibt und zu dem Schluss kommt, große Teile der SPD seien damit gut beschrieben, sollte sich etwas Zeit lassen. Denn der einbetonierte Kompass steht nicht nur bei allen Parteien in den Zentralen, sondern überall, in jeder Firma, in jedem Verein und in jedem Haushalt.
Der einbetonierte Kompass ist besonders in Deutschland sehr verbreitet und er erfreut sich momentan wieder eines massenhaften Absatzes.
Dogmatismus und Intoleranz
Auf der phänomenologischen Ebene handelt es sich um den Habitus, immer alles aufgrund einer einmal erworbenen Weltsicht erklären zu können. Nicht nur, dass Erkenntnisse nun einmal immer in einem historischen Kontext gelten, sondern auch die Attitüde, die daraus resultiert, ist beschämend.
Menschen mit einem einbetonierten Kompass sind zumeist ein Ausbund an Dogmatismus und Intoleranz. Oft reicht die Anregung, noch einmal über das eine oder andere, das gesetzt ist, nachzudenken, um einen Sturm der Entrüstung und eine Totalblockade hervorzurufen. Dann geht das Kesseltreiben gegen diejenigen los, die nach neuen Einsichten streben.
Und noch einmal: Wer meint, es handele sich exklusiv um ein Phänomen der Sozialdemokratie, liegt falsch.
Angst vor Identitätsverlust
Ebenso wenig ist der Typus nur im konservativen Lager zu finden, sondern, vielen wird das nicht schmecken, auch bei denen, die für sich reklamieren, sogar revolutionär zu sein. Besonders dort sind die Sanktionen gegen die, die zementierte Wahrheiten neu beleuchten wollen, besonders drakonisch.
Die Gewissheiten, die aus der zementierten Lebensroute resultieren, sind beruhigend und ein wunderbares Narkotikum gegen die Lebensangst. Insofern ist das Verständnis für die Motive des eingebauten Kompasses sehr wichtig, um an die Demontage dieses Instruments zu gelangen. Denn eine tatsächlich innovative, vielleicht auch revolutionäre Herangehensweise an die Fragen der Zeit kann nur gelingen, wenn der aggressive Skeptizismus derer, die schon immer alles wussten, überwunden werden kann. Dazu gehört die Überwindung der Angst gegen den Identitätsverlust.
Volle Kraft voraus
Denn neben der Angst, sich auf unbekanntes Terrain begeben zu müssen und somit verletzlich zu sein, gesellt sich die noch weitaus größere Furcht davor, von außen nicht mehr als das, was man sich mühevoll erworben hat, identifiziert zu werden. Damit handelt es sich bei dem einbetonierten Kompass, also auch um einen vermeintlich identitätsstiftenden oder zumindest identitätserhaltenden Mechanismus.
Es reicht nicht, die Notwendigkeit neuer Fragestellungen und Hypothesen mit den praktischen Erfordernissen der Gegenwart zu begründen. Es ist notwendig, auch die Relativität der vermeintlich gesicherten Existenz mit ins Spiel zu bringen.
Wer in Zeiten großer Veränderungen darauf beharrt, dem einbetonierten Kompass stur zu folgen, wird das befürchtete Desaster nur wahrscheinlicher machen. Beim Kurs auf den berühmten Eisberg ist alles vonnöten, nur nicht das sture Festhalten am alten Kurs. Da verwundert schon manchmal die zur Schau getragene Arroganz derer, die auf der Brücke stehen und „Volle Kraft voraus“ schreien.
Quellen und Anmerkungen
[1] Der marxistische Theoretiker, kommunistische Politiker und Revolutionär Leo Trotzki (1879 – 1940), der maßgeblich zum Erfolg der russischen Revolution beitrug, wurde 1940 von einem sowjetischen Agenten in Mexiko ermordet. ↩
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.