Kategorien
Rezension

Grand Hotel Abgrund und Teddys letzter Seufzer

„Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmessbaren Trauer dessen was ist?“

Nichts läge ferner, als sich gerade jetzt mit der Frankfurter Schule zu befassen. Selten hatte das, was unter deren Namen in die Philosophie-Geschichte eingegangen ist, derartige Aktualität wie heute. Vor allem die „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno als auch der negative Kulminationspunkt von Letzterem in der „negativen Dialektik“ bezogen sich auf die Masken aus der Unterwelt des Kapitalismus: Auf die Möglichkeit der Wahl des Immergleichen, auf die Entfremdung und Verdinglichung und auf die Perversionen der technokratischen Vernunft.

Grand Hotel Abgrund

Der Brite Stuart Jeffries hat diese Aktualität genutzt, um einem größeren Publikum das Portfolio einer Denkschule näherzubringen, die weitaus variabler war, als oft angenommen.

In seinem Buch „Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit“ ist ihm das gelungen. Bei der Bezeichnung aus dem Titel handelt es sich um eine Metapher des marxistischen Kulturpolitikers Georg Lukács, der bereits sehr früh die fehlende Zielsetzung der akademischen Denkfabrik kritisierte und ihr den Absturz prophezeite.

Die Arbeit hat verschiedene Teile, die klug gewählt sind. Einerseits wird anhand einer Zeitschiene, die von den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts bis heute reicht, die Entwicklung rekonstruiert, andererseits liefert Jeffries eine Art Soziologie der Gründer. Zusammengefasst werden kann letztere als wesentlich geprägt durch ein erfolgreiches jüdisches Bürgertum, aus dem zumindest Protagonisten wie Horkheimer, Adorno, Walter Benjamin, Herbert Marcuse, Erich Fromm et cetera stammten.

Das auf sie ausgerechnet das bismarcksche Bonmot zutraf, dass die jeweils erste Generation das Imperium schüfe, die zweite es verwalte und die dritte Kunstgeschichte studiere, entbehrt nicht der Tragikomik.

Die bürgerliche Weltbetrachtung

Aufgrund dieser sozio-politischen Genealogie verwundert es nicht, dass vor allem in den frühen Werken Fragen nach Selbstbestimmung und Entfremdung dominieren. Der rebellische Charakter, den die Protagonisten gegen ihre bürgerlichen Elternhäuser hatten entwickeln müssen, führte sie quasi notwendigerweise zu den Werken von Karl Marx, die damals die Antipode zur bürgerlichen Weltbetrachtung bildeten.

Der Erfahrungshorizont auf den sie sich bezogen blieb jedoch bildungsbürgerlich. Daraus lässt sich ihre lebenslange Arrondierung im akademischen Milieu erklären.

Neben der ausführlichen Schilderung der einzelnen Strömungen der Frankfurter Schule, die deutlich macht, wie groß tatsächlich ihr Einflussbereich war, nämlich von der negativen Dialektik Horkheimers und Adornos, über einen vielleicht doch teleologischen Geschichtsbegriff eines bis heute bezüglich seiner revolutionären Potenziale unterschätzten Walter Benjamins bis hin zu den Marcuses und Fromms und ihrer zwar gegenseitig abgrenzenden, aber doch auf eine positive Entwicklung setzenden Ansätze.

Abschied vom Abgrund

Was ebenfalls nicht außen vor bleibt, sind die schaurigen persönlichen Erfahrungen, die zwischen einer saturierten Berliner oder Frankfurter Kindheit lagen und auf den Flucht- und Exilstationen gesammelt werden mussten. Da wird sehr plastisch, welche materiellen Ursachen das rigorose Abwinken auf einen positiven Geschichtsdeterminismus hatte.

Jeffries Revue der Frankfurter Schule endet mit Jürgen Habermas und Axel Honneth. Nicht ohne Witz nennt er das Kapitel, das er diesen beiden Zöglingen der exquisiten Lehranstalt widmet, „Abschied vom Abgrund“. In Bezug auf die “negative Dialektik” scheint das zu stimmen. Und in Bezug auf vor allem die „Theorie des Kommunikativen Handelns“ eines Jürgen Habermas trifft dies auch auf eine positive Konsequenz

Letztere ist allerdings seit langem auf den lapidaren Unsatz der Funktionseliten verkommen, dass alles Aushandlungsprozessen unterliege, die von der ausgeschlossenen unterprivilegierten Klasse als Geschacher der Mächtigen dechiffriert wird.

Teddys letzter Seufzer

Inwieweit das Diktum von Habermasens Theorie, dass ein unter Freien und Gleichen geführter Diskurs über die politische Ausrichtung und Bestimmung des Gemeinwesens erreicht werden könne, nicht – würde ein Max Horkheimer und ein Teddy Adorno noch die Geschicke der nicht mehr existierenden Institution bestimmen – zu einer sofortigen Relegation des Renegaten führen würde, ist leicht zu beantworten.

Und wahrscheinlich zitierte Teddy Adorno sich in der Begründung der ordnungspolitischen Maßnahme dann selbst, und zwar aus der Minima Moralia:

„Was wäre Glück, das sich nicht mäße an der unmessbaren Trauer dessen was ist?“


Informationen zum Buch

Grand Hotel Abgrund – Die Frankfurter Schule und ihre Zeit

Aus dem Englischen von Susanne Held (Orig.: Grand Hotel Abyss. The Lives of the Frankfurt School)
Autor: Stuart Jeffries
Seiten: 509
Verlag: Klett-Cotta
Erscheinung: 2019 (2. Druckauflage)
ISBN: 978-3-608-96431-8


Illustration: Neue Debatte

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Wie ist Deine Meinung zum Thema?

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.