Im letzten Jahr war ich Zeuge eines Ereignisses und einer Vorgehensweise, die mich jeweils sehr erschütterten. Es ging um nichts Besonderes, aber es zeigt, in welcher psychologischen Falle sich die herrschende Politik befindet. Ob sie wieder dort herausfindet, ist zweifelhaft.
Die Abstinenz der Massen
Die Echokammer, in der sich auch die hiesige herrschende politische Öffentlichkeit befindet, ist versiegelt und für kritische Rückmeldungen nahezu nicht mehr zu durchdringen. Der täglich angeprangerte Populismus ist Bestandteil der Wirklichkeit geworden, und zwar auch aufseiten der Politik im Amt. Es stellt sich die Frage, ob die Art von Kritik, die normativ gefordert wird, nicht auch gegen die Regierung angebracht ist. Sie ist, wie viele andere, vom Populismus infiziert.
Erstaunt blickte ich am folgenden Montag in die Tageszeitung und las von 7000 Schülerinnen und Schülern, die sich aktiv um die Zukunft Sorgen gemacht hatten. In Bezug auf die Aktionen, die während der Unterrichtszeit am Vormittag in den Schulen stattgefunden hatten, war das durchaus möglich. Allerdings wurde die Überschrift mit der besagten Zahl mit einem Bild von der spärlich besuchten Kundgebung untermauert. Das war wohl so entstanden, dass der Fotograf auf der Bühne in die Knie gegangen war und mit einem Fischauge die Aufnahme gemacht hatte. Sie suggerierte ein volles Haus, zum bersten voll. Polizei, Presse wie die offizielle Politik sprachen von 4500, die dort versammelt gewesen seien. Aus meiner Sicht Fake News par excellence.
Die Übernahme der Methoden
Im Grunde würde es sich um eine Petitesse handeln, wären nicht nahezu alle Akteure, die sich an der eigenen Überschätzung berauschten, diejenigen, die bei der Inauguration1Als Inauguration wird die feierliche Einführung in ein Amt bezeichnet. von Donald Trump Gift und Galle gespuckt hatten, als er und sein Pressestab trotz leerer Straßen in Washington von dem größten öffentlichen Interesse je gesprochen hatten.
Entscheidend ist nicht das einzelne Ereignis. Entscheidend ist das Muster, das sich dahinter verbirgt. Es ist zu beobachten, dass von einer immer mehr um sich greifenden Abwendung vieler Menschen von dem, wie sich Politik bisher gebärdet hat, darauf geschlossen wird, dass die Methoden derer, die davon im Moment profitieren, Erfolg versprechende sind. Offiziell wird das nicht zugegeben, aber klammheimlich werden die Methoden zunehmend kopiert. Das Ergebnis ist verhängnisvoll.
Eine Politik der großen Linien und der Grundsätze ist nicht erkennbar, eine erkennbare Wirkung soll es quasi nicht mehr geben, die mediale Resonanz mit Halbwertzeiten von wenigen Stunden ist wichtiger als Substanz.
Der Populismus im Kopf
Und es geht, wie es in solchen Fällen immer gehen muss. Erst werden kleine Fake News produziert und irgendwann folgen die Personalien. Die Idee, in Sachsen-Anhalt den Erzpopulisten Rainer Wendt zum Staatssekretär des Innern machen zu wollen, dokumentiert, wie weit der Populismus in den Köpfen der sogenannten anderen Parteien bereits gesetzt ist.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.