Die mediale Aufregung ist groß. Und die Art und Weise, wie über die Abstimmung innerhalb der SPD über ihren neuen Parteivorsitz berichtet wird, hat den Charakter eines schweren Indizes.
Die Meinungsindustrie
Noch am Vorabend, am Black Friday des Konsumterrors, der den Zeitgeist sehr gut umschreibt, wurde über Radiowellen ein deutlicher Vorsprung des unterlegenen Kandidatenpaares Geywitz/Scholz behauptet. Woher derartige Prognosen kommen, weiß niemand. Oder doch?
Jedenfalls erweisen sich diese Meldungen als so etwas wie eine vage Hoffnung derer, die es mit dem Status quo haben. Die Behandlung des Duos Esken/Walter-Borjans in den Medien im Vorfeld ließ sich als Kesseltreiben einer die Neutralität nicht mehr begreifenden Meute im Gewande des Journalismus beschreiben.
Nun, nachdem die Entscheidung gefallen ist, wird spekuliert. Im Wesentlichen geht es den Spekulanten auf dem Informationsmarkt vor allem um Personalien und die Frage, ob die Große Koalition weiter bestehen bleibt oder nicht. Darum geht es vordergründig. Dass zumindest ein Viertel der SPD-Parteimitglieder sich die Frage stellte, ob es nicht an der Zeit ist, über einen Paradigmenwechsel in der Partei nachzudenken und diese damit zu retten, diese existenzielle Frage wird seitens der Meinungsindustrie nicht zugelassen. Darum geht es jedoch.
Schrecken, Euphorie und Verrat
Was bei den einen Angst und Schrecken auslöst, sorgt auf der anderen Seite für Euphorie. In den ‘Social Media’ konnten zuweilen die knallenden Sektkorken im antiken linken Lager gehört werden. Dort wird jetzt von einer neuen Ära geträumt, in der alle Linken wieder vereint sind und dann auch noch Mehrheiten zustande bringen, aus denen Regierungen hervorgehen, die alles, was Jahrzehnte des Wirtschaftsliberalismus angerichtet haben, wieder zurechtrücken könnten. Das ist rührend, aber auch illusionär.
Im Ruhrgebiet, zu den Zeiten, als der große Sensenmann noch nicht am Horizont zu sehen war, konnte man lernen, dass man zwei Dinge in seinem Leben niemals machen dürfe: Seine Klasse und seinen Fußballverein verraten.
Das klingt aus heutiger Sicht ein bisschen irre, aber aus ihm spricht der gute Instinkt, dass es eine soziale und kulturelle Verortung geben muss für einen Menschen, sonst hat er keine Grundlage. Nicht das der Schwenk der Sozialdemokratie mit der Jahrtausendwende hin zum Wirtschaftsliberalismus der alleinige Grund für die zentrifugalen Kräfte der Gesellschaft gewesen wäre. Nein, die waren und sind auch ohne Sozialdemokratie in vollem Gange.
Ihre Rolle jedoch wäre es gewesen, das zu erkennen und dafür zu sorgen und zu unterstützen, dass sich diejenigen, gegen die der Feldzug der Couponschneider begann, nämlich das eigene Klientel, anfangen sich zu wehren. Stattdessen begab man sich ins Management der Gegenseite, um Schlimmeres zu verhindern. Das wurde der Partei nie verziehen und als Verrat begriffen. Und dass sie nun damit aufhört, sich diesen Umstand schönzureden, ist begrüßenswert, aber macht aus ihr noch keine neue, andere Partei.
Zwanzig Jahre im Management politisch bizarrer Regierungen, ohne die programmatische Klarheit, für die gute Politik immer steht, haben viele Funktionäre geformt, die nicht das Bedürfnis haben, diesen Kurs wieder zu ändern.
Keine Erlösung
Dass das Ergebnis der parteiinternen Abstimmung auf der einen Seite Entsetzen, auf der anderen Erlösungsgefühle auslöst, spricht für zweierlei: Einerseits für die Relevanz, die die Existenz der SPD noch für viele Menschen besitzt. Andererseits für das Wissen um die Notwendigkeit eines Kurswechsels in der Politik generell. Ein “Weiter so!” kann es nicht geben. Weder in der SPD, noch in der Gesellschaft. Mehr ist mit den aktuellen Ereignissen nicht geklärt. Wie es weiter gehen soll, das wird die Gesellschaft wie die SPD noch einige Zeit beschäftigen.
Illustration: Neue Debatte mit Material von Pixabay.com
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.