Jenseits der Tagesaufgeregtheiten drängen sich Fragen auf: Wie verhält es sich mit der Aufmerksamkeit hinsichtlich der Gestaltungsräume für die Zukunft? Sind die bestehenden Strukturen das Maß, über das man sich erhitzen sollte, wenn es um das Design des Neuen geht? Ist die bestehende Struktur das, was man die DNA für das Morgen nennt? Wohl kaum!
Am Ende des Horizonts
Nicht nur im Jetzt, sondern immer wieder ist festzustellen, dass die meisten Journalisten sich dafür interessieren, wer mit wem in welchen bestehenden Konstellationen Politik machen will. Gerade im Moment, wo die SPD eine nicht etablierte Parteispitze gewählt hat, ist das für viele Kommentatoren die Frage der Stunde. Bleibt die Partei in der Großen Koalition oder kündigt sie sie auf?
Diese Herangehensweise ist nicht neu, sie ist das immer wiederholte Lied derer, die sich nicht vorstellen können oder wollen, dass sich etwas ändern muss. Wie die Inquisitoren reiten sie in ihren Standardgewändern auf der Frage herum, wie sich die Neuen hinsichtlich der bestehenden Strukturen verhalten werden.
Jeder Versuch, die Frage anders anzugehen, nämlich in Bezug auf die politische Ausrichtung und die programmatischen Inhalte, wird abgebügelt und als Manöver des Ausweichens stigmatisiert. So, als hörte ihr Horizont im Status quo auf, tanzen sie auf der Frage nach den bestehenden Strukturen herum. Die Vorgehensweise ist ein bitteres Indiz für die Ignoranz und Fantasielosigkeit derer, die das kritisch begleiten sollen, was immer noch den mächtigen Namen Politik trägt.
Die Insolvenz der herrschenden Politik
Politik ist die Ausrichtung des sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Geschehens einer Gesellschaft. Dazu müssen Konzepte entwickelt werden, die eine Vorstellung davon geben, wie die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenlebens Gestalt annimmt. Wenn das geschehen ist, stellt sich die Frage, welche Strukturen erforderlich sind, um dies zu erreichen.
Die bestehenden Strukturen als ein Fixum dafür zu nehmen, wie die Zukunft zu gestalten ist, kann als die tatsächliche Insolvenz der herrschenden Politik und ihrer medialen Eskorte betrachtet werden. Wer sich darauf einlässt, hat bereits verloren, bevor das Ticket für die Reise in die Zukunft gelöst ist.
Erstaunlich ist, wie sich gerade die politischen Mandatsträger immer wieder auf dieses Setting festlegen lassen. Nicht, dass sie es nicht immer wieder versuchen würden. In nahezu jeder sich mit Politik befassenden Talkshow geht es den für die Erhaltung des Status quo engagierten Entertainern ausschließlich um das Personalkarussell innerhalb der bestehenden Strukturen. Jeder Versuch von Politikerinnen und Politikern, sich mit inhaltlichen Gestaltungsfragen zu befassen, wird abgebügelt – und sie treten mit einer ihnen nicht zustehenden Burschikosität dafür ein, diese, die wichtigste, die entscheidenden Frage auszublenden und die Mobilität im bestehenden Karrieresystem zum Zentrum der Betrachtung zu machen.
Telekratie und Statthalter des Stillstands
Es ist an der Zeit, nicht nur die richtigen Fragen zu stellen und jenseits der bestehenden Strukturen über politische Inhalte zu streiten, die sich an den Erfordernissen der Zukunft ausrichten, sondern es ist überfällig, das Festhalten an den bornierten Frageschemata durch den politischen Journalismus den Casus Belli1Als Casus Belli wird eine Handlung bezeichnet, die unmittelbar einen Krieg auslöst. Die Umstände bleiben dabei ausgeklammert. festzumachen.
Es ist davon auszugehen, dass die Betrachter dieses Zirkus, der mit Politik wahrlich nichts zu tun hat, außer man versteht darunter die Festschreibung des Bestehenden, das öffentliche, vehemente und kämpferische Aufbegehren von Politikerinnen und Politikern mit großer Sympathie verfolgen würden, weil auch sie mehr als gesättigt sind von diesen Statthaltern des Stillstandes.
Neulich, in einem ähnlichen Zusammenhang, war von einem empörten Zuschauer eine Rückmeldung zu lesen, in der er das Ende dieser mediokren2mittelmäßig Telekratie3Telekratie (auch Mediokratie, Medienherrschaft oder Mediakratie) ist eine Medientheorie und ein Begriff der Politikwissenschaft. Demnach werden politische Entscheidungen, Diskussionen und politische Kommunikation in modernen Demokratien nicht mehr primär von den politischen Parteien, sondern zunehmend von den Interessen der Massenmedien geprägt. forderte. Besser kann es nicht auf den Punkt gebracht werden.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Über das notwendige Ende der Telekratie“
Es scheint als ob langsam ein Umdenken stattfindet. Hoffentlich erfasst dieses immer größere
Teile der Bevölkerung. Und die Träume von einer besseren Zeit werden Wahr.