Taras Derkatsch, Senior Associate der Rechtsanwaltsgesellschaft Beiten Burkhardt in Moskau, erklärt im Gespräch mit Daria Boll-Palievskaya von russland.NEWS, worum es sich beim sogenannten Gesetz über das Souveräne Internet handelt, das am 1. November 2019 in Kraft getreten ist und das russische Segment des globalen Netzwerks vor externen Bedrohungen schützen soll.
Herr Derkatsch, das Gesetz über das souveräne Runet (der russische Bereich des Internets) hat viele Menschen in Russland und auch im Westen verunsichert.
Taras Derkatsch: Das Gesetz besagt, dass russische Internetprovider eine bestimmte Internetausrüstung einkaufen müssen beziehungsweise dass sich diese Ausrüstung in Russland befinden soll, damit der Datenverkehr über diese Ausrüstung läuft und der russische Bereich des Internets im Bedrohungsfall weiterhin funktionieren kann. Einfach ausgedrückt, wenn Runet vom World Wide Web abgeschaltet werden sollte, sollten Krankenhäuser weiterhin arbeiten können. Man muss dabei wissen, dass es sich technisch gesehen nicht um ein separates Gesetz handelt, sondern um Änderungen in der bereits bestehenden Gesetzgebung.
Viele Experten meinten, zwischen den Zeilen lesen zu können, und haben es so interpretiert, dass damit in Russland die Zensur eingeführt wird. Das zum Beispiel Internetseiten abgeschaltet werden, die das veröffentlichen, was dem Staat nicht gefällt. Das gehe aus dem Gesetz allerdings nicht hervor. Außerdem sollte man wissen, dass, bevor in Russland ein Gesetz in Kraft tritt, mehrere Normativ- beziehungsweise Rechtsakte verabschiedet werden müssen. Das ist die gängige Praxis in Russland. Die sind aber noch gar nicht vorbereitet. Deswegen gehen viele Fachleute davon aus, dass dieses Gesetz erst im Jahre 2021 in Kraft treten wird.
Auch danach bleibt die Frage offen, ob die sogenannten Experten recht behalten werden, die behaupteten, es gehe um die Begrenzung der Freiheit des Wortes.
Also befürchten Sie nicht, dass das Gesetz einen negativen Einfluss auf den Datenverkehr haben wird?
Taras Derkatsch: In den letzten fünf Jahren sind in Russland mehrere Gesetze betreffend Internet und IT-Recht verabschiedet worden. Aber sie alle betreffen den eigentlichen Nutzer, sei es eine Privatperson oder ein Unternehmen, gar nicht oder nur in einem sehr geringen Umfang. Eine Ausnahme macht das Gesetz über personenbezogene Daten.
Wie real ist aber die Gefahr, dass Runet vom restlichen Internet „abgeschaltet“ wird?
Taras Derkatsch: Ich kann Ihnen einen Fall schildern. Ein österreichisches Unternehmen hat Gazprom1Die PAO Gazprom (deutsche Transkription Gasprom) ist das weltweit größte Erdgasförderunternehmen. Mit Marktkapitalisierung von etwa 110 Milliarden US-Dollar ist es eines der größten Unternehmen Europas. Gazprom ist mit rund 456.000 Beschäftigten der größte privatwirtschaftliche Arbeitgeber in Russland Anlagen geliefert. Dann haben sie im Zuge der Sanktionen beschlossen, diese Maschinen von Satelliten aus zu blockieren. Jetzt stehen diese Anlagen herum und können nicht benutzt werden.
Dass die Software ausgeschaltet werden kann, ist schon lange bekannt und viele Unternehmen nutzen das zum Beispiel im Falle einer Nichtbezahlung. Also technisch ist das möglich. Inwiefern aber die Ängste der russischen Regierung berechtigt sind, ist nicht ganz klar. Vielmehr sollte die Frage lauten: Entsprechen die vorgeschlagenen Maßnahmen der bestehenden Gefahr oder können sie als drakonisch definiert werden?
Eins ist sicher. Es ist verfrüht zu sagen, ob das Gesetz nur auf die Einführung der Zensur im Internet abzielt. Warten wir zunächst auf die Normativakte. In der Regel werden in ihnen die notwendigen Informationen gegeben.
Zur Person: Taras Derkatsch studierte Rechtswissenschaften an der Saratower staatlichen Akademie für Recht. Er arbeitete zunächst als In-House Jurist bei der russischen Tochtergesellschaft der Robert Bosch GmbH, danach im Moskauer Büro von Rödl und Partner. Seit 2011 ist er bei der Rechtsanwaltsgesellschaft Beiten Burkhardt tätig. Er ist außerdem Mitglied des Sachverständigenrates im Bereich ausländische Investitionen beim Antimonopoldienst Russlands.
Zum Hintergrund
Russlands Internet: Revolution oder Abriegelung?
Um sich gegen Cyberangriffe zu wehren, soll Russlands Internet bei Bedarf vom übrigen Netz abgekoppelt werden können und dennoch funktionstüchtig bleiben. So lässt sich der Plan der russischen Regierung zusammenfassen. Russische Oppositionelle sind skeptisch, denn hierzu wären auch inländische Knotenpunkte einzurichten, die eine Überwachung und Zensur erleichtern könnten. Dass es um mehr als nur um eine Russifizierung von Leitungswegen geht, zeigt sich zum Beispiel an Bestrebungen des Kreml, das russischsprachige Wikipedia durch eine rein russische Online-Enzyklopädie zu ersetzen. Während einige russische Medien von einer “technischen Revolution” berichten, bleiben die russischen Internetnutzer auffallend unaufgeregt. Wohl auch, weil von Netzsperren ins Ausland – entgegen anders lautender Meldungen – bisher nicht die Rede sein kann.
Informationen zum Video
Russlands Internet: Revolution oder Abriegelung?
Format: russland.TV
Moderation: Anna Smirnowa (Sankt Petersburg)
Länge: 00:07:33
Sprache: Deutsch
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Illustration, Foto und Video: Neue Debatte und russland.NEWS
russland.NEWS ist eine seit 1999 bestehende deutschsprachige Onlinezeitung über Russland. Bis 2017 war russland.NEWS in Russland registriert. Der Sitz des Unternehmens ist heute in Hannover. Für die Zeitung arbeiten deutsche und russische Journalisten, feste Redakteure arbeiten in Moskau und Sankt Petersburg. Die Berichterstattung konzentriert sich vor allem auf den europäischen Teil Russlands, die osteuropäischen GUS-Staaten und die Uralregion.