Der Mensch an sich muss kreativ sein, um den Zumutungen des Lebens standhalten und entgegenwirken zu können. Kreativität ist notwendig, um die Zufälligkeit objektiv realer Erscheinungen des natürlichen Seins in bewusst gestaltete, menschliche Kultur zu erheben.
Ein Wort von Lessing
Man kann sagen, dass schon von jeher Menschen, wie zum Beispiel die Humanisten der Renaissance oder der Aufklärung, Wege aufzeigten, wie für alle ein lebenswertes Dasein in Würde gestaltet werden könnte.
Dies findet sich auch in der von Lessing formulierten Feststellung, dass “größtenteils alles, was man gemeiniglich gute Taten zu nennen pflegt, entbehrlich zu machen” sei. Darin steckt die Erkenntnis, dass jeder Mensch aufgrund seiner menschlichen Wesenszüge befähigt ist, für sich selbst sorgen und den für sich richtigen Weg durchs Leben selbst finden kann [1].
Allerdings müssen dafür die Möglichkeiten für jeden in seinem individuellen gesellschaftlichen Umfeld gegeben sein. Denn erst wenn dem zu Bewusstsein befähigten und zu Kreativität begabten Wesen Mensch alle Wege offen stehen, kann es die Spontanität natürlicher Entwicklungslinien in der Kultur seines Willens aufheben und sich mit harmonisch verlaufenden Wirtschaftskreisläufen in das Ökosystem Erde bewusst und zielorientiert eingliedern.
Schon deshalb muss die Macht des geldgierigen Vorteils, der es den wenigen Besitzern der Produktionsmittel und des Finanzkapitals in der heutigen Zeit ermöglicht, sich besinnungslos zu bereichern, die Masse also vom Reichtum ausschließt und dem Subjekt somit die Findung des eigenen richtigen Weges durch das Leben verbaut, gebrochen werden.
Das Jahr 1989 und die Unvorhersagbarkeit
Das alltägliche Handeln und Wirken der Menschheit öffnet einerseits Wege in eine bessere Zukunft, verursacht aber andererseits auch katastrophale Zustände. Erst mit wachsendem Bewusstsein können wir das jeweils Notwendige erkennen, das uns Mögliche zu unserem Nutzen erarbeiten und uns selbst vor dem Verfall bewahren.
Fast 14 Milliarden Jahre Evolution alles Existierenden werden der Menschheit heute bewusst. Die wichtigsten Daten, Ereignisse und Zusammenhänge der Kulturgeschichte von Anbeginn bis heute hat Werner Stein in seinem „Kulturfahrplan“ in vielen Jahren zu einem Nachschlagewerk zusammengetragen. Sämtliche Gebiete des Lebens wie Politik, Geschichte, Schauspielkunst, Religion, Philosophie, Erziehung, bildende Kunst, Architektur, Musik, Oper, Tanz, Film, Wissenschaft und Technik, Wirtschaft, Sport, also die Vorgänge des alltäglichen Lebens, sind durch zuverlässig überprüfte Daten dargestellt. Im Vorwort der Ausgabe von 1990 seines Werks [2] schreibt der Autor:
„Das Jahr, dem unsere vereinbarte Zeitrechnung die Ziffer 1989 zuschreibt, gehört der Vergangenheit an. Damit wurde es zugleich einer der Zukunftsfaktoren. Diese scheinbar paradoxe Aussage klärt sich, wenn man bedenkt, dass die Zukunft von der Summe der Impulse geprägt wird, die sich aus der Summe früheren Geschehens ergaben und ergeben. Aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit stammt das einzige Wissen, das wir über die Zukunft haben können. So können wir dank der Arbeit und Erfahrungen früherer Wissenschaftler Sonnen- und Mondfinsternisse sekundengenau vorhersagen, das Wetter wesentlich ungenauer, und für die Politik haben wir das Jahr 1989, das sich offensichtlich jeder Vorhersagbarkeit entzog.“
Wer sich heute auf den Weg in ein besseres Morgen begeben will, muss aus dem Gestern lernen und beginnen, nach dem grundsätzlich Notwendigen und dem jeweils Möglichen zu suchen, um zielorientiert dort anzukommen.
Daniela Dahn beschreibt in “Westwärts und nicht vergessen” [3] die gesellschaftliche Übergangssituation nach dem Sturz der DDR-Diktatur und sie beschreibt auch, wie sich die bis dahin „eingemauerten“ DDR-Bürger durch die bundesdeutsche, bürgerliche Demokratie vereinnahmen ließen:
„Die DDR ging unter, als sie gerade anfing, Spaß zu machen. Und zwar nicht nur für ein paar Dutzend Bürgerrechtler, sondern für Millionen Menschen, die endlich ihr Schicksal in die Hand genommen hatten, demonstrieren gingen, auf Versammlungen sprachen, Resolutionen verfassten, sich neuen Gruppen anschlossen, Plakate malten, Häuser besetzten, Parteien und Verbände gründeten, Menschenketten bildeten, unabhängige Studenten- und Betriebsräte wählten, Flugblätter druckten, die alten Chefs absetzten, in Städten und Dörfern runde Tische einrichteten.“
So viel Selbstbestimmung sei nie gewesen und damit so viel neues Selbstbewusstsein. Spaß habe dieses Land nun auch denjenigen Schriftstellern gemacht, die gottlob weder reine Schurken noch reine Helden waren, die aber für sich in Anspruch nehmen konnten, dem Elementaren der Kunst verpflichtet gewesen zu sein: der Wahrhaftigkeit. Sie schrieben in neu gegründeten Zeitungen, organisierten Solidaritätsveranstaltungen in Kirchen, wurden in unabhängige Untersuchungskommissionen delegiert, drehten Filme, für die es keine Abnahmen mehr gab, entwarfen neue Gesetze und Statuten.
“Es war die bislang intensivste Zeit meines Lebens“, bemerkt Daniela Dahn, „endlich, endlich war beinahe mühelos möglich, wofür wir uns all die Jahre gemüht hatten. Endlich schien die Vergeblichkeit besiegt, das Zeitalter der Sinngebung angebrochen. Doch das Reich der Freiheit, in dem die bürgerlichen und die sozialen Menschenrechte garantiert waren, währte nur ein halbes Jahr. Dann brach für die besitzlosen Ostdeutschen das Reich der Besitzenden aus. Eine Mehrheit, voll ungestilltem Verlangen, diesmal den Versprechungen der Obrigkeit glauben zu können hatte gewählt”.
Die Folgen seien bekannt:
„Millionen Ostdeutsche gerieten in fatale Abhängigkeiten von Alteigentümern, drei von vier Industriebeschäftigten wurden aus ihren Betrieben, neun von zehn Bauern von ihren Äckern vertrieben. Eine krisenhafte, sich aber immer noch selbst versorgende Wirtschaft musste zur künstlichen Ernährung an den westlichen Waren- und Geldtropf angeschlossen werden: Märkte schaffen ohne Waffen. Nun war Anpassung auf der ganzen Linie gefragt. Unsere basisdemokratischen Gesetzentwürfe hatten sich erübrigt. Die neuen alternativen Zeitschriften gewannen zwar Abonnenten, aber keine Inserenten. Sie gingen folgerichtig ein.“
Die damals ausgesprochen populär gewordenen östlichen Sender seien abgeschaltet worden. Verlage mussten schließen. Vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der „Geschichte der SED-Diktatur“ habe man festgestellt dass etwa eine Million Menschen in Ostdeutschland von der Elitenrestitution betroffen seien. Psychologisch gesehen sei damit der Bogen überspannt worden. Die für die Abwicklung Verantwortlichen haben zu viele aus dem Publikum dieses „Potentials“ zu sehr brüskiert, „was östlichen Intellektuellen jetzt eine unerwartete Renaissance beschert, weil ihre Prognosen über die Folgen eines überstürzten Beitritts bedauerlicherweise eingetroffen“ seien.
Der Übergang
Es ist an der Zeit, dass wir Menschen uns die Art und Weise, wie wir künftig unser Leben verbringen sollten, nicht mehr irgendwie erklären lassen, sondern dass wir es bewusst und eigenwillig gestalten wollen.
Es sind idealisierende Zukunftsvorstellungen, die uns in manchen unserer Zukunftsträume jeweils gegenwärtige Schwierigkeiten, Wirrnisse, Leiden oder Ungerechtigkeiten erträglicher machen könnten. So auch die vom Aufbau sozialgerechter Gesellschaftsverhältnisse. Diese sind jedoch auch in Staaten mit zum Teil riesigem Wirtschaftspotenzial trotz erkenntnistheoretischen Herangehens und der Möglichkeiten der Nutzung konkreter Machtausübung misslungen.
In aller Deutlichkeit zeigt das klägliche Scheitern krampfhafter Versuche, Quantitätsschübe und Qualitätssprünge zur beschleunigten Entwicklung der Wirtschaftskreisläufe erzwingen zu wollen, dass eben nicht die zeitweilig gegebene Verfügungsgewalt über staatliche Machtinstrumente und eine zu erstarrten Dogmen umgedeutete Gesellschaftstheorie den Charakter der Gesellschaftsverhältnisse bestimmen können. Die notwendigen Stoff-, Energie- und Informationsflüsse waren und wurden immer mehr gehemmt, Produktion und Dienstleistung waren unzureichend, die Zirkulation war gestört, die Verteilung ungerecht und Konsumtion aus Mangel oft nicht möglich.
In der Zeit des Zusammenbruchs des sogenannten sozialistischen Systems und nach Jahrzehnte andauernder Enttäuschung glaubten die dort lebenden Menschen an eine grenzenlos überlegene Produktivität der kapitalistischen Wirtschaft, sodass sie sich per Wahlzettel für den bedingungslosen Anschluss an diese Wirtschaftsweise entschieden.
Jedoch hatte sich die wirtschaftliche und soziale Situation in der Welt insgesamt seit Mitte der 1990er Jahre radikal verändert.
Die Akkumulations-, Verteilungs- und Regulierungsweise, die sich in der Nachkriegsperiode des Zweiten Weltkrieges unter maßgeblichen Einfluss des Keynesianismus [4] herausgebildet hatte, geriet zunehmend in eine Krise. Der internationale Konkurrenzkampf erhält seither immer mehr globale Züge und nimmt auf allen wichtigen ökonomischen Feldern an Schärfe und Druck zu.
Der globale Charakter kapitalistischer Standortkonkurrenz sowie die heute tendenziell unbegrenzte Kapital- und Standortmobilität führen zu Einschnitten in den Nationalökonomien. Unsicherheit der Wirtschafts- und Sozialentwicklung spitzen sich zu. Möglichkeiten der Produktivkraftentwicklung werden einseitig für radikale Kostensenkungen und Einsparungen von Arbeitsplätzen eingesetzt, um die Kapitalverwertung zu verbessern und die internationalen Konkurrenzpositionen des Kapitals zu stärken.
Überall in der kapitalistischen Welt erfolgt die relative Loslösung der monetären Sphäre von der Realökonomie. Die hohen Renditen der Geldanlagen, die Labilität und die Erschütterungen der internationalen Finanzmärkte sowie anhaltende Währungsturbulenzen beeinträchtigen die realwirtschaftliche Entwicklung.
Die Verschärfung
Die Internationalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und die Vertiefung der ökonomischen Integration im Rahmen der Wirtschaftsblöcke geraten in immer krasseren Widerspruch zu deren Unwirksamkeit bei der notwendigen gemeinsamen Lösung von internationalen Problemen, vor allem der Abrüstung und Friedenssicherung, der Erhaltung der natürlichen Umwelt, der Sicherung sozialer Mindeststandards sowie insgesamt bei dringlichem „Krisenmanagement“.
Auf die größeren Herausforderungen und Probleme reagieren die Regierungen, die Unternehmen und ihre Verbände im Innern mit dem Angriff auf den Sozialstaat und nach außen mit verstärkten Bemühungen, die politische und militärische Präsenz der führenden kapitalistisch wirtschaftenden Staaten in der Weltpolitik und deren ökonomische Vormachtstellung zu erhöhen.
Dies geschieht, ohne dass wirksame Beiträge zur Lösung der realen Konflikte geleistet oder auch nur Konzepte hierfür erarbeitet werden. Die immer schwieriger bis schließlich ganz unmöglich werdende Höherentwicklung der Produktivkräfte verstärkt die Lebensbedrohlichkeit der kapitalistischen Produktionsweise.
Menschliches Wirken
Zuletzt ist noch festzustellen, dass nicht ein natürlicher Klimawandel uns Menschen und unseren Planeten bedroht, sondern die gnadenlose Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und die Zerstörung des Ökosystems Erde, getrieben durch die Profitgier der kapitalistischen Global-Player.
Entsprechend ist kein “Deal” mit dem Verursacher zu suchen, sondern die Aufmerksamkeit und Energie ist zu richten auf die Beseitigung der Ursache: die Abschaffung der kapitalistischen Wirtschaftsweise und seiner Begleiterscheinungen. Alles andere verzögert lediglich die voranschreitende Zerstörung, wird diese aber nicht verhindern.
Wir Menschen erwerben spielend, lernend und arbeitend unser Selbstbewusstsein, das es uns ermöglicht, unser Leben eigenwillig zu gestalten. Dazu braucht ein jeder von uns die Freiheit, eigenverantwortlich handeln zu können. Gleichzeitig bedarf es des Willens, sich diese Freiheit auch gegen die Widerstände des Bestehenden zu erkämpfen und die Verantwortung anzunehmen, menschliches Wirken in Handlung umzusetzen, die den Aufbau einer postkapitalistischen sozialen, ökologischen und friedlichen Gesellschaft zum Ziel hat: Die Lage ist ernst, es muss getan werden.
Quellen und Anmerkungen
[1] Gotthold Ephraim Lessing: Ernst und Falk – Gespräche für Freimaurer. Verlag Freies Geistesleben (Stuttgart 1991). ↩
[2] Der Kulturfahrplan ist eine von dem Physiker und Politiker Werner Stein (1913-1993) 1946 in zwei Bänden veröffentlichte synchronistische Geschichtstabelle. Seit 1993 aktualisierte ein Redaktionsteam die Neuauflagen des als Standardwerk etablierten Werkes. ↩
[3] Daniela Dahn: Westwärts und nicht vergessen. Vom Unbehagen in der Einheit (Berlin 1996). ↩
[4] Der Keynesianismus [keɪnz-] ist ein auf John Maynard Keynes (1883-1946) zurückgehendes Theoriekonstrukt, wonach die gesamtwirtschaftliche Nachfrage die entscheidende Größe für Produktion und Beschäftigung sei. Der Keynesianismus beruht vor allem auf dem 1936 erschienenen Werk “Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes”. ↩
Illustration: Neue Debatte
Frank Nöthlich (Jahrgang 1951) wurde in Neustadt/Orla (Thüringen) geboren. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und sechs Enkelkinder. Er studierte Biologie, Chemie, Pädagogik, Psychologie und Philosophie von 1970 bis 1974 in Mühlhausen. Nach dem Studium war er an verschiedenen Bildungseinrichtungen als Lehrer tätig. Von 1985 bis 1990 war er Sekretär der URANIA-Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse. Später arbeitete er als Pharmaberater und ist heute Rentner und Buchautor (www.briefe-zum-mensch-sein.de). Er sagt von sich selbst, dass er als Suchender 1991 in der Weltbruderkette der Freimaurer einen Hort gemeinsamen Suchens nach Menschenliebe und brüderlicher Harmonie gefunden hat.
Eine Antwort auf „Eine Philosophie über Dimensionen menschlichen Wirkens“
Man stelle sich mal vor, neben der BRD würde es einen freien, sozialistischen, deutschen Staat geben, in dem der Bürger die Politik bestimmt.
Kein Wunder, dass der damalige Finanzminister Waigel aus lauter Panik, die Gauner der Treuhandabwicklung vor der Gerichtsbarkeit schützte.
Und heute ist es wieder der „Wessi“, der sich oberlehrerhaft mit dem Green Deal aus dem verniedlichten Klimawandel freikaufen möchte. Während der „Ossi“ die Schnauze voll hat von den demütigenden Bevormundungen und die Kapitalisten nicht nur für die Umweltzerstörungen an den Pranger stellen will.
Die Oberlehrer sind linksgrün versifft und die „ehemaligen“ Sozialisten rechts. Obwohl es eigentlich genau umgekehrt ist. Aber das merkt eh keiner, weil nicht zusammen kommt, was zusammen kommen muss. Wir sind das Volk, wird es wohl nicht mehr geben. Der deutsche Faschismus ist noch lange nicht tot.