Wer weiß schon, wohin die Reise gehen wird? Trotz des eindeutigen Ergebnisses der britischen Wahlen ist die Situation diffuser denn je. Fest steht, dass Großbritannien die Europäische Union nun im Eiltempo verlassen wird und das, was unter dem unsäglichen Namen Brexit drei Jahre lang zu Zerwürfnissen, Spekulationen und unbeschreiblicher Hetze geführt hat, in die Geschichte eingehen wird.
Das sogenannte gemeinsame Haus Europa, das große Teile Europas ignorierte, konnte selbst die Insel im Westen nicht integrieren. Großbritannien selbst hat sich nie als integralen Bestandteil des Kontinentalprojektes gefühlt.
Das, was die Brüsseler Bürokratie als hohes Ziel der Standardisierung als Parole ausgegeben hatte, ist nicht nur vielen Briten aufgestoßen. Nationale Souveränität und Selbstbestimmung sehen anders aus. Die immer wieder geübte Verunglimpfung nationaler Interessen hat nicht weitergeführt. Sie wurde enthüllt als das, was sie ist: als eine Kampagne zur Durchsetzung der Wirtschaftsinteressen nationaler und multinationaler Interessen, die mit den Bedürfnissen großer Teile der Bevölkerung nicht kompatibel sind.
Das große Trauma, das sowohl in Großbritannien als auch in Ländern wie Ungarn oder Polen viele Menschen in die Fänge nationalistischer Propaganda getrieben hat, war die Flüchtlingsbewegung im Jahr 2015. Da wollte vor allem Deutschland die EU-Staaten auf Kurs bringen und sie teilhaben lassen an den kläglichen Ergebnissen einer gescheiterten Syrien-Politik und an der Idee, die Preise auf den europäischen Arbeitsmärkten nach unten zu nivellieren und die entstehenden Integrationskosten zu vergesellschaften. Die Resultate sind bekannt: Zwiespalt und Zweifel herrschen, soweit die Blicke reichen.
Figuren wie Boris Johnson, Viktor Orbán und Jaroslaw Kaczynski haben profitiert von einem Spiel, das sich Hasard nennt. Wen wundert es da, dass Hasardeure nun den Gewinn einfahren?
Das Dilemma besteht in der Regie, die gerade von deutscher Seite an den Tag gelegt wurde. Es wurden mit dem Argument der Werte-Gemeinschaft knallharte wirtschaftliche Interessen verfolgt. Die Schäden, die sich daraus ergeben haben, sind folglich nicht nur materieller Art.
Produktion, Verteilung und Gewinn gingen an diejenigen, die gleichzeitig die Demontage des politischen Gemeinwesens zum Programm erhoben haben. Die Textur ist einfach: die Herstellung synthetischer Märkte, das Dumping von Löhnen und die Kollektivierung der Kollateralschäden. Das hat gewirkt, das hat enttäuscht und das hat zu großem Unwillen geführt, wie die bürgerkriegsähnlichen Zustände gerade in Frankreich illustrieren.
Gleichzeitig hat die Spiegelung dieser Politik mit einer Werte-Terminologie zu einem regelrechten Entsetzen bei denen geführt, die das ökonomische Konzept erleiden mussten oder schlicht durchschaut haben. Das nicht zu realisieren ist das große Defizit derer, die die politische Verantwortung tragen. Ihre Verblendung wird gerade jetzt, beim Bröckeln des Konstruktes, offensichtlich. Die Ursache bei der Begriffsstutzigkeit der Bürgerschaft zu suchen, ist frivol. Und mit einem “Jetzt-erst-recht” zu antworten, ist gemeingefährlich.
Genau das aber ist die Reaktion. Statt sich einer kritischen Analyse zu widmen, werden Großmachtpläne geschmiedet, die dem ökonomischen Hasard folgen sollen.
Eine militärische Aufrüstung, die den Verteidigungsgedanken ignoriert, ist bezüglich der Interessen des militärisch-industriellen Komplexes zwar folgerichtig, gleichzeitig jedoch auch eine Kriegserklärung an die eigene Bevölkerung. Die nämlich hat begonnen sich entweder nationalstaatlich oder im Innern – auf den eigenen Straßen – von dem Projekt Europa, das keines ist, mit Vehemenz abzuwenden.
Freude, schöner Götterfunken; das Diktum des deutschen Idealismus aus dem Munde von Entrückten, die das Leben und Arbeiten der Bevölkerung nicht wahrnehmen, ist zu einer schaurigen Veranstaltung geworden.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.