Endlich, endlich ist wieder ein Thema gefunden, das kaum gesellschaftliche Relevanz besitzt, welches aber geeignet ist, die Gemüter über Monate zu erhitzen und sich vor allem von allem abzuwenden, das gravierend auf die tatsächlichen Lebensbedingungen Einfluss hat.
Verhandlungen auf dem Pissoir
Wir kennen das schon: Es sind meist durchaus sinnvolle Betrachtungsweisen, aber über keine profunden Dinge, gerade das jedoch macht ihren Charme aus. Man kann sich erhitzen und den tatsächlich erforderlichen Kampf um eine vermeintliche politische Lufthoheit führen, ohne dass es dabei zu ernsthaften Verletzungen kommt.
Dosenpfand und Plastiktüten waren solche Geschichten, die vor allem Beobachterinnen und Beobachter von außen zunächst ungläubig staunen ließen und dann zu verständnislosem Kopfschütteln führten.
Wie kann, so fragten sich viele, eine Gesellschaft mit dieser Geschichte und Produktivität in einen derartigen Streit verfallen, wenn es um Fragen der täglichen Sachbearbeitung geht? Und wie kommt es, dass die Fragen, die die Strategie des Landes betreffen, im toten Winkel des gesellschaftlichen Auges, quasi auf dem Pissoir, verhandelt werden und kaum die Gemüter erhitzt?
Dosenpfand, Plastiktüte, Kassenbon
Was begann mit einer hochtrabenden Theorie, der des kommunikativen Handelns, die besagt, dass es notwendig sei, einen gesellschaftlichen Diskurs zu führen über die politisch relevanten Themen, hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Die Theorie konzedierte1Konzedieren steht laut Duden für einräumen, zugestehen, zugeben., dass die Voraussetzungen, diesen Diskurs zu führen, bereits in der Entstehung des Industrialismus nur Wenigen gegeben war. Geändert hat sich seitdem wenig, mit Ausnahme zweier verhängnisvoller Fehlinterpretationen.
Zum einen wurde das Ziel des geforderten gesellschaftlichen Kurses, nämlich eine Verständigung über die politischen Notwendigkeiten herzustellen, vulgarisiert zu dem Theorem, alles sei verhandelbar.
Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der auf die Idee kam, dieses Thema zu etablieren, ist der Mann des Jahres. Dieser Schachzug war genial. Denn mit dem Kassenbon wird die Ideologiemaschine mit ihren Sondersendungen, Sonderberichten, Talkshows und Features wieder laufen wie geschmiert und die ganze Nation wird rüsten zum letzten Gefecht.
Ob es sinnvoll sei, so die scheinheilige Frage, bei jedem profanen Geschäftsprozess soviel Papier zu produzieren, das die Natur nachhaltig belaste, ob es nicht reiche, nur die damit zu bedienen, die tatsächlich wert darauf legten? Dass bei einem solchen Unterfangen die Geschäftsprozesse weiter verlangsamt und kompliziert werden, merkt kaum noch einer, und dass sie ablenken von anderen Dingen, ist kein Zufall, sondern intendiert.
Defender 2020
Wenn das Thema so richtig hochkocht, wird das NATO-Manöver „Defender 2020“ an der russischen Grenze Ressourcen verschleißen und die Natur belasten wie alle Kassenbons der Welt in den nächsten Jahrzehnten es nicht vermögen.
Aber die Diskussion wird sich mit religiöser Inbrunst dem Thema Kassenbon hingeben und der “Coup Genial” des Wirtschaftsministers wird erfolgreich sein.
Die Theorie des kommunikativen Handelns ist aus den Designerbüros der Frankfurter Schule in den Souk2Suq (auch Souk) steht für Markt. eines bunten, doch profanen Bazars gewandert. Dieser hat ideologischen, hat Herrschaftscharakter. Der Kassenbon ist das neueste Indiz.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Genial, ein neuer Coup! Der Kassenbon…“
Es ist tatsächlich so, daß Themen und ihre Wertigkeit von Kommunikationsstrategen in, oder mit Hilfe der Medien gesetzt werden. Die Ablenkung funktioniert wie beim Stierkampf das rote Tuch, die “Muleta”! Der Stier, also wir, merkt/merken es erst wenn’s zu spät ist…
Es fragt sich doch jeder, der diese Bundestagsdebatte sich angesehen hatte, ob diese Herrschaften keine anderen Sorgen haben. Machte sich doch gut im Zusammenhang mit der Klimahysterie. Und ich dachte, jetzt wird der Bundestag mal satirisch – von wegen der gepflegten Langeweile der Bundestagssitzungen, in denen es nicht erlaubt ist, erkennbar emotionale Reden zu halten! Aber welch ein Irrtum! Bierernst wurde allen Ernstes behauptet, die Materialzusammensetzung der Bons würde die Gesundheit der Kunden und die Umwelt schädigen.