Die Resümees sind gezogen. Dort, wo die Rückschau auf das vergangene Jahr gemacht wurde, ging es sehr unterschiedlich zu. Die in den TV-Stationen durchgeführten Rückblicke litten alle unter der politischen Betrachtung, die so viel Überdruss produziert und als die Sicht im Sinne der Bundesregierung bezeichnet werden kann. Da auch einmal etwas kritisch zu erwähnen, was dem Diktum des herrschenden Zeitgeistes widerspricht, ist wohl auch zu viel verlangt.
Die zweite Lage der Resümees stand im Schatten der zu erzielenden Quote. Und unter diesem Aspekt ist das Schamgefühl endgültig begraben worden. Schlimmeres Boulevard kann man sich nicht ausdenken.
Dort, in den angesprochenen TV-Sendern, bleibt nur wenig, was zur kritischen Betrachtung des Zeitgeschehens anregt. Wenn, dann sind es Satiriker, bei denen man immer bangen muss, wann sie auf dem Index stehen und nicht mehr dürfen.
Die Welt ist im Umbruch
Doch es wäre fatal, die Kritik an den Rückblenden dabei zu belassen. Denn, auch wenn sich das in den alten und bekannten Medien wie TV oder Zeitung kaum ablesen lässt, wir leben in sehr bewegten Zeiten. Die Welt ist im Umbruch.
Nicht nur, dass sich einzelne Länder von eher ruhigen Akteuren im Weltgefüge zu regelrechten Riesen entwickelt haben, wie China das ist und Indien immer mehr wird. Nein, auch der alte Platzhirsch USA ist angesichts der neuen Verhältnisse mächtig ins Schlingern geraten und macht nun Dinge, die strauchelnde Imperien nun einmal tun:
Sie machen Fehler über Fehler und sie können zwischen Freunden und Feinden nicht mehr unterscheiden. Davon hat wiederum Russland profitiert und sich taktisch gut positionieren können.
Und es brennt! Nicht nur im wörtlichen Sinne, wie am Amazonas oder in Australien, sondern auch im figurativen, aber konkret politischen Sinne.
In Chile, in Venezuela, in Brasilien, in Bolivien und Kolumbien. In Hongkong, in Barcelona und in Frankreich.
Es geht um die Zukunft
Nicht, dass es überall um dasselbe ginge. Konkret unterscheiden sich die Kämpfe, die dort stattfinden. In einem haben sie dennoch etwas gemein: Es geht um die Zukunft. Und diese Zukunft stellt Fragen, die überall hell erleuchtet im Raum stehen:
Wie sieht es mit Ökologie und Ökonomie aus und welche Rolle wird der mittellose Mensch noch spielen, wenn das alles so weiter geht?
Ja, letztendlich haben Jahrzehnte des Wirtschaftsliberalismus im Westen und der des zentralistischen Dirigismus [1] im Osten dazu geführt, dass sich die Frage zuspitzt auf den kleinsten gemeinsamen Nenner eines jeden Sozialwesens.
- Welche Rolle spiel das einzelne, von Macht und Einfluss freie Individuum?
- Wird es weiter verwaltet wie ein nutzloses, allenfalls als Arbeitskraft und Marktfaktor eine Rolle spielendes Objekt? Oder wird dieses Objekt des Passivzustandes überdrüssig und sucht im Zustand der Vereinigung nach neuen Lösungen?
- Wollen die Objekte wieder Subjekte werden und selbst gestalten?
Die Entscheidung
Im Hinblick auf diese Rätsel liegt ein durchaus positives Jahr hinter uns. Die Macht des wirtschaftsliberalistischen Narrativ ist gebrochen und in vielen Ländern ist der Kampf gegen die sich dahinter verbergenden Interessen bereits ausgebrochen. In Deutschland, auch das gehört zur Redlichkeit, ist dieses nicht der Fall.
Während im benachbarten Frankreich seit einem Jahr bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, wird hierzulande emotional hoch aufgeladen Symbolpolitik gemacht. Wie lange das noch so funktioniert, ist abzuwarten.
Allzu lange wird das nicht mehr gehen, denn die sozialen Auswirkungen sich verändernder Produktionsweisen sowie die fatale Neuorientierung der Politik ohne die notwendigen Investitionen in Infrastruktur und Bildung, dafür aber in eine wachsende Militarisierung, werden viele hart treffen.
Und dann ist sehr schnell Schluss mit lustig. Dann kommt es zur praktischen Kollision. Und es wäre gut, wenn jeder schon einmal für sich räsonierte, auf welcher Seite sie oder er steht. Das ist eine gute Vorbereitung auf das nächste Jahrzehnt.
Und einen klugen Kopf bei dieser Entscheidung, den wünsche ich allen, die mir am Herzen liegen! Lasst das Jahrzehnt frohen Mutes hinter Euch!
Quellen und Anmerkungen
[1] Dirigismus steht als Begriff für die vollständige zentrale Lenkung der gesamten Volkswirtschaft durch den Staat mit dem Instrument der Planwirtschaft. ↩
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.