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Anarchismus

Der falsche Streitpunkt der Gewalt

“Damit zwei in Frieden leben können, ist es notwendig, dass beide den Frieden wollen …” Eine Betrachtung der Gewalt aus der Perspektive eines Anarchisten.

Die Frage, die ich behandeln will, ist eine alte und immer wieder diskutierte Frage, sowohl unter Anarchisten wie auch im Allgemeinen. Es geht um die Frage der Gewalt. Ich bin der Ansicht, dass die Unterscheidung in Gewalt und Gewaltlosigkeit im Grunde ein falscher Streitpunkt ist, der vor allem von vielen Missverständnissen genährt wird.

Dieser Artikel will versuchen – sicherlich nur ansatzweise –, einige dieser Missverständnisse zu klären.

Wir, als Anarchisten, sind für eine freie und zwangslose Gesellschaft, basierend auf der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe, und somit für die größtmögliche Beseitigung der rohen Gewalt aus den sozialen Verhältnissen. Und eben aus diesem Grund sind wir Gegner des Kapitalismus und des Staates, der, unter Androhung und Anwendung der Gewalt (des Polizisten und gegebenenfalls des Soldaten), den Großteil der Menschen dazu zwingt, sich von den Reichen und den Bossen ausbeuten zu lassen beziehungsweise sich an die Gesetze zu halten, die diese Ausbeutung sicherstellen.

Mittels der Gewalt verteidigt der Staat das heilige Eigentum, das heißt, beschützt er die Privilegien der Besitzenden und hält er die Armen davon ab, sich das zurückzuholen, was ihnen tagtäglich bei der Ausbeutung ihrer Arbeit gestohlen wird.

Mittels der Gewalt setzt das Kapital seine wirtschaftlichen Interessen durch, auch ohne davor haltzumachen, auf Kriege und Verheerungen (Umweltzerstörung, Atomkraft, etc.) zurückzugreifen. Dieser alltäglichen und ständigen Gewalt, der, unter den heutigen Bedingungen, Milliarden von Menschen ausgesetzt sind, als Auswuchs einer Gesellschaft, in der die Autorität und das Geld regieren, wollen wir so bald wie möglich ein Ende setzen.

Es wäre jedoch ein Irrsinn, ja geradezu ein fataler Fehler, zu glauben oder darauf zu hoffen, dass die Privilegierten, die von dieser Ordnung der Dinge profitieren, und die die Macht in ihren Händen halten, sich den Schaden zu Herzen nehmen, den sie für den Großteil der Menschen bedeutet, und freiwillig auf ihre Privilegien verzichten würden.

Darum sind wir überzeugt, dass es, um dieser sozialen Ungleichheit ein Ende zu setzen, eines Aufstands bedarf – vonseiten jener, die unter diesen Bedingungen leiden und sich, je bewusster sie sich dieser Bedingungen werden, umso dringender davon befreien wollen.

Deshalb kämpfen wir für eine soziale Revolution, die sicherlich ein Anwachsen und eine Verbreitung dieses Bewusstseins bedingt, aber dennoch ohne jene aufständischen Bewegungen unmöglich bleibt, die fähig sind, das zu zerstören, was die systematische Gewalt, das heißt, den Staat und die Ausbeutung möglich macht. Dieser revolutionäre Prozess wird immer die konservativen und staatlichen Kräfte gegen sich haben und kann, so bitter wir dem auch gegenüberstehen mögen, nicht anders als gewaltsam sein.

Die Frage liegt also, aus diesem Blickwinkel betrachtet, jenseits des falschen Streitpunkts von Gewalt oder Gewaltlosigkeit. Die Gewalt ist ein Übel.

Und dennoch ist sie, zur Befreiung von den gegenwärtigen Unterdrückungsbedingungen, notwendig, ja wäre es fatal, ihr zu entsagen, wenn wir nicht dafür mitverantwortlich sein wollen, dass die alltägliche und größere Gewalt dieser Ordnung weiter fortdauert.

Auch wenn ich jeden verstehen kann, der aus persönlichen Gründen auf jeglichen Gebrauch von Gewalt verzichten will: daraus ein universelles Prinzip zu machen, bedeutet, den Ausgebeuteten und Unterdrückten das einzige Mittel abzusprechen, um ihrer Bedingung wirklich ein Ende zu setzen.

Betrachten wir die Frage unter einem anderen Aspekt. Im Grunde läuft die Position der meisten sogenannten „Gewaltlosen“ darauf hinaus, die Legitimität des Gebrauchs von Gewalt auf die äußerste Notwendigkeit, auf die Verteidigung gegen einen unmittelbaren und materiellen Angriff zu reduzieren. Wenige gehen soweit, zu behaupten, man solle sich lieber erschießen lassen, als zurückzuschlagen – abgesehen von irgendwelchen christlichen Märtyrern vielleicht.

Doch wenn wir davon ausgehen, dass die Gewalt einzig als Verteidigung gegen einen materiellen Angriff legitim ist, befindet sich dann derjenige, der sich in einer Situation von Ausbeutung und Unterdrückung befindet, der, aufgrund eben dieser Situation, einer permanenten Drohung ausgesetzt ist, nicht immer im Zustand von legitimer Verteidigung?

Und im Wissen, dass der Angriff oft die beste Verteidigung ist, wieso sollte er erst, wenn ihm das Wasser bis zum Hals steht, wenn die Repression des Gegenübers bis zum Äußersten getrieben wird, moralisch gerechtfertigt sein, sich gegen die Verantwortlichen für seine Bedingung zu wehren?

Und ganz abgesehen davon, wieso sollte sich jemand anmaßen, darüber urteilen zu können, ab wann jemand anderes (dessen intime Bedingung wir meistens kaum kennen) genug unterdrückt wurde, um sich legitim verteidigen beziehungsweise angreifen zu dürfen?

In unseren Augen ist die rebellierende Gewalt des Unterdrückten immer eine verteidigende Gewalt. Der Staat, die Polizei, die Gefängnisse, die von den Bossen organisierte Ausbeutung und jede andere repressive Institution, stellen alleine schon durch ihr Bestehen eine Drohung, eine Provokation, einen Angriff dar. Und es ist nicht nur legitim, sondern, wenn wir uns dieser Gewalt nicht einfach unterwerfen wollen, notwendig, vom heutigen Tag an, ob individuell oder kollektiv, gegen sie die Initiative zu ergreifen und Angriffe zu realisieren, ohne auf irgendeinen hypothetischen großen Tag der Befreiung zu warten.

Wie oft sind nicht jene, die schreien, wenn ein Individuum sich auflehnt und gewaltsam gegen seine Unterdrückung rebelliert, dieselben, die schweigend Kriege und Polizeigewalt als Normalität legitimieren?

Wir wissen, dass diese Ordnung jeden gewaltsamen Akt von Rebellen immer als Grausamkeit hinstellen wird, während sie selber im Hintergrund foltert, tötet und massakriert. Wir wissen, was der „Friede“ bedeutet, wovon die Regierenden ständig und überall sprechen, und wir wollen diesen Frieden nicht. Denn, wie es ein Anarchist einmal ausdrückte:

“Damit zwei in Frieden leben können, ist es notwendig, dass beide den Frieden wollen; […] wenn einer der beiden darauf beharrt, den anderen mit Gewalt dazu zwingen zu wollen, für ihn zu arbeiten und ihm zu dienen, der andere, wenn er seine Menschenwürde bewahren und nicht in die niederträchtigste Sklaverei gezwungen werden will, trotz all seiner Liebe für den Frieden und das gute Einverständnis, gezwungen sein wird, der Gewalt mit angemessenen Mitteln Widerstand zu leisten.”


Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag “Der falsche Streitpunkt der Gewalt” wurde im November 2013 anonym in “Aufruhr – Anarchistisches Blatt” (Zürich, Nummer 12, Jahr 2) veröffentlicht. Die Anarchistische Bibliothek hat den Beitrag archiviert. Neue Debatte hat den Text übernommen, um eine umfassende und kritische Diskussion über die Hintergründe sozialer Kämpfe, Revolten und Aufstände sowie das Phänomen der sie begleitenden Gewalt zu ermöglichen. Zur besseren Lesbarkeit im Netz wurden Absätze eingefügt und einzelne Absätze hervorgehoben.


Illustration: Neue Debatte

Neue Debatte ist das Magazin für Menschen, Kultur und Gesellschaft. Es steht für 100% Journalismus und Wissenschaft von unten - unabhängig und nicht werbefinanziert. Journalisten, Blogger, Arbeiter, Akademiker, Soziologen, Handwerker, Philosophen, Micro-Blogger, Erwerbslose, Wortkünstler, Experten und kritische Menschen aus allen Milieus und Ländern skizzieren das Zeitgeschehen aus ihrem Blickwinkel: offen, ehrlich und ohne doppelten Boden. Unterstütze uns!

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2 Antworten auf „Der falsche Streitpunkt der Gewalt“

Als Anarchistin lehne ich Machtausübung ab. Gewalt ist aber Machtausübung. Es ist ja nicht so, dass wir uns alle einig wären. Also muss ich denen mit der anderen Meinung meinen Willen aufzwingen. Aber ist das Anarchie? Nein – es ist der gleiche Mist. Am Ende muss ich die Gewalt weiter ausüben, damit mein Willen, so vernünftig und gut begründet er auch sein mag, an der Macht bleibt. So einen Unsinn hatten wir schon zu Genüge.

Was man aber machen kann, ist das System zu sabotieren. Das ist allerdings nix für eine öffentliche Debatte. So gut es geht aus dem System ausklinken, Gegenpropaganda betreiben und um Himmels Willen keine Leithammel. Eine Revolution die Sinn machen soll, muss aus der Gesellschaft wachsen. Was man durchaus machen kann, ist sich die Spalter à la Volksverpetzer vorzunehmen. Das ist aber auch nix für die öffentliche Diskussion. Und damit fängt es an – die Konspiration. Aber wer ist zuverlässig? Wer vertrauenswürdig? Wer nicht eitel oder selbstsüchtig? Die jetzigen, tatsächlichen Machthaber arbeiten letztendlich auch konspirativ und das ist das Geheimnis ihres Erfolges. Was wir von denen zu sehen bekommen, ist lediglich eine Fassade, die unter anderem der Spaltung dient.

Außerdem sehe ich ein weiteres Problem – den allgemeinen Bildungsstand und auch einen Mangel an Bildungswillen. Was käme da heraus, wenn wir die Sache über das Knie brächen? Eben jener “Anarchismus” bzw. jene Pseudoanarchisten, die unsere Machthaber zu meinem Ärger als Anarchismus bzw Anarchisten darstellen. Würde das passieren, würden sich die Bürger womöglich die CDU zurückwünschen. Es ist verdammt kompliziert.

Veränderungen in den Strukturen der Gesellschaft und deren Funktionen beginnen per se, also aus sich heraus.

Grundledige Veränderungen in der Gesellschaft können immer nur durchgesetzt werden, wenn der Großteil der Bevölkerung sie braucht und aus diesem Grund auch will und wenn die Herrschenden die derzeitigen Verhältnisse auch mit ihren Machtinstrumenten nicht mehr aufrecht erhalten können. Weder Hilflosigkeit und Angst der Betroffenen, der Arroganz und Überheblichkeit der Machthaber oder Interessen einzelner Staaten beziehungsweise Wirtschaftsgemeinschaften sind die tiefgründigen Ursachen für den eskalierenden Verfall des Ökosystems Erde und unser menschlicheres Dasein. Sondern unsere Welt wird immer deutlicher von der allgemeinen Krise der kapitalistischen Wirtschaftsweise mit ihrer Finanzoligarchie geprägt. Akut äußert sich diese dadurch, dass sie in kurzer Zeit aufeinanderfolgend in vielen Varianten erscheint, wie Wirtschafts- und Finanzkrisen, Staatskrisen, Strukturkrisen, humanitäre Krisen, Terrorkrisen und auch die Corona-Krise.
Damit die notwendigen Veränderungen letztendlich von den Unterdrückten erfolgreich durchgesetzt werden können, ist es wichtig, dass es Vorstellungen gibt, wie und warum denn was verbessert werden muss und mit welchen Zielstellungen die Veränderungen erreicht werden können. Damit dafür eine erfolgreiche Strategie und die jeweilige Taktik erarbeitet werden kann, muss zunächst debattiert werden.

Es gibt keine abstrakte Wahrheit, die Wahrheit ist immer konkret.

Immer bevor die Menschen zu notwendigen Veränderungen bereit sind kommt es zu extremen Polarisierungen. Das ist aber gleichzeitig die notwendige Voraussetzung dafür dass sich im gesellschaftlichen Diskurs zu den anstehenden Problemen die Erkenntnis zu progressiven Alternativen herauskristallisieren kann, die dann mit der jeweils erfolgsversprechenden Strategie und Taktik Wege in eine bessere Zukunft weisen.
Die lebendige Wirklichkeit ist immer in Entwicklungen, in Wahrscheinlichkeiten, in Komplikationen reicher als jeder theoretische Begriff bzw. jede Prognose.
Gesellschaftswissenschaftliche und aus den Erfahrungen der historischen Entwicklung gewonnene Erkenntnisse sollte man als strategische Leitlinien für gesellschaftsverändernde Aktivitäten in Anspruch nehmen. Zu situationsbedingt konkretem Handeln ist dann jeweils ein dementsprechend taktisches Vorgehen erforderlich. Die Theorie beschäftigt sich mit dem, was existiert, während die Situationsanalyse die Grundlage zum konkreten Handeln ist.
Eine wissenschaftlich begründete Lehre darf kein Dogma, sondern muss Anleitung zum handeln sein. Aus dem Zitieren von allgemein gültigen Thesen, Zielvorstellungen oder Definitionen kann man kein der Situation entsprechendes Vorgehen bestimmen. Das ist bestenfalls dazu geeignet, allgemeine Aufgaben zu erkennen, die aber auf Grund der jeweilig konkreten wirtschaftlichen und politischen Situation zwangsläufig modifiziert werden müssen.
Das Haupthindernis zu einem nichtdogmatischen Verständnis des Weltgeschehens ist die Neigung dazu, das Konkrete durch das Abstrakte zu ersetzen. Dies ist einer der gefährlichsten Irrtümer, besonders in Situationen, wo das konkrete Geschehen sehr unbeständig ist, voll mit Sprüngen, Rückzügen und scharfen Wendungen.
Jede Verallgemeinerung, die auf einen konkreten Einzelfall angewandt wird, ohne die besonderen Bedingungen die dazu führten zu bedenken, wird zur Phrase.
Eine zielorientiert erfolgversprechende, strategisch-taktische Vorgehensweise muss durch die genaue Einschätzung der objektiven Lage des konkreten Geschehens entwickelt und dieses gleichzeitig im Zusammenhang mit den grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung gesehen werden.

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