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Presse & Freiheit

Kampagnenjournalismus und chinesische Reissäcke

Die Komplexität eines Phänomens wie dem Klimawandel auf das Individualverhalten eines Promilles der Weltbevölkerung zu reduzieren, ist keine Erklärung, sondern Indiz für die Herrschaftsfantasien mittelständischer Parvenüs der alten Welt.

Die Zeiten, in denen es hieß, es interessiere nicht, ob in China ein Sack Reis umfalle oder nicht, sind lange vorbei. Die globale Vernetzung der Ökonomie und die Interdependenz politischer Prozesse haben tatsächlich eine Komplexität entstehen lassen, die die pur lokale Betrachtung nahezu ausschließt.

Die Meinung der Auftraggeber

Die Darstellung des Weltgeschehens ist anspruchsvoller geworden. Umso beklagenswerter ist der Umstand, dass eben dieser erforderliche Qualitätsschub in der Berichterstattung systematisch verhindert wurde. Es existiert nicht einmal mehr der Anspruch, dieser Komplexität gerecht zu werden. Das mit mangelnder Lese- und Abstraktionskompetenz der Nachrichtenkonsumenten zu begründen, ist bloßer Zynismus.

Nicht, dass sich das Wesen der Zeitungsproduktion geändert hätte. Schon ein Honoré de Balzac wies in seinem bahnbrechenden Roman „Verlorene Illusionen“ daraufhin, dass es beim Pressewesen nicht um die Wahrheit oder geschriebene Qualität, sondern um Verkaufszahlen ginge. Ein Blick auf die Besitzverhältnisse im Pressewesen zeigt eine nie da gewesene Konzentration. Das besonders in Deutschland gepflegte Korrektiv der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten hat dem Druck, den private Meinungsmonopole erzeugten, nicht standgehalten.

Die Ursachen sind vielschichtig. Sie liegen unter anderem im allgemeinen Trend zum Inseratenjournalismus und in der Instrumentalisierung des gesamten Apparates zum Sprachorgan der herrschenden Regierung. Das Resultat ist jeden Tag zu beobachten. Die Qualität in Bezug auf Recherche, Stil und Inhalt ist schlecht und die Dechiffrierung der Komplexität findet nicht statt. Was bleibt, ist ein Substrat, das die Meinung der Auftraggeber widerspiegelt.

Chinesische Reissäcke

Der anfangs zitierte Sack Reis ist wichtiger denn je. Nicht, um die Welt zu erklären, sondern, um von ihren tatsächlichen Funktionszusammenhängen abzulenken. Jeder Tag liefert dafür Belege. Allein am vergangenen Wochenende wurde, von den längst bekannten Manipulationschiffren einmal abgesehen, die Selektion der Themen zum Indiz.

Im Iran fanden Demonstrationen gegen die Regierung statt. Das ist wichtig und interessant. Die Art, wie darüber berichtet wird, klingt allerdings eher wie eine späte Legitimierung des Drohnenmordes an einem persischen General. Im Irak demonstrierten zur gleichen Zeit über eine Million Menschen für den sofortigen Abzug aller US-Truppen aus dem Land. Dazu kommt kein Wort.

In China ist kein Sack Reis umgefallen, sondern das Coronavirus ausgebrochen. Darüber wird berichtet, allerdings mit dem Zungenschlag, die Regierung täusche vor, das Problem lösen zu können, wären da nicht deutsche Forscher aus der Berliner Charité, die den überforderten Chinesen helfen würden. Dass in der Provinz Wuhan in einer Woche (!) ein Krankenhaus explizit für diese Herausforderung entsteht, wird nicht zum Anlass genommen, die eigene Unfähigkeit, durch eine ausufernde Kollektion von Vorschriften und eine nicht mehr funktionierende Bürokratie zu beleuchten, zeigt das Muster. Es besteht aus einer Mischung aus Größenwahn und einem schlummernden, von Angst durchtränktem Minderwertigkeitskomplex.

Kampagnenjournalismus

Und die Komplexität eines Phänomens wie dem Klimawandel reduziert der Kampagnenjournalismus auf die Frage des Individualverhaltens eines Promilles der Weltbevölkerung. Dabei handelt es sich um keine Erklärung, sondern um die Herrschaftsfantasie mittelständischer Parvenüs aus der alten Welt.

Und in Frankreich lässt ein Präsident, der hier als der große Hoffnungsträger präsentiert wird, das eigene Volk kontinuierlich von einer außer Rand und Band geratenen Polizei Wochenende für Wochenende brutal zusammenschlagen. Davon erfährt man von den selbst ernannten Qualitätsmedien nichts. Was vermeldet wird, ist, dass „der Franzose“ gerne streikt und es mit der Arbeit nicht so hat. Als Emmanuel Macron Präsident wurde, attestierte man ihm das Prädikat der letzten Bastion gegen die neue Rechte. Wer sich seine Bilanz ansieht, sollte zu dem Schluss kommen, dass er es mit seiner neoliberalen Agenda zur Avantgarde eines neuen Faschismus gebracht hat. Kritische Reflexion? Fehlanzeige!

Man kann es drehen und wenden, wie man will, die Liquidatoren dessen, was sich im Allgemeinen als Demokratie in den Köpfen festgesetzt hat, sitzen zu einem profunden Teil in den Institutionen, die die Komplexität der Welt erklären sollen.


Unabhängige Medien zur Verbreitung von Fakten. (Illustration: Neue Debatte)


Illustration: Neue Debatte

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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