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Zentrismus als Fantasie und der Fall aus den Wolken

Eine absolute Wahrheit existiert nicht, doch auch der Leitsatz, dass die Summe aller relativen Wahrheiten der objektiven Wahrheit sehr nahe kommt, sollte nicht verblüffen.

Was passiert, wenn Menschen irgendwann feststellen, dass das Bild, das sie selbst von der gesellschaftlichen Realität haben, in der sie leben, und das ihnen täglich von allen Seiten bestätigt und vermittelt wird, ein Gebilde der Fantasie ist?

Fantasie und Trugschluss

Wenn sich herausstellt, dass alles, was sich so leicht einordnen ließ, sich plötzlich als Phantasmagorie herausstellt? Wenn klar wird, dass man sich in einem Dasein fühlte, das überschaubar erschien und die Zufriedenheit der eigenen Verortung vermittelte, sich als ein großartiger Trugschluss herausstellt? Ja, dann kommt das zum Vorschein, dass mit der schönen Redewendung, man fiele aus allen Wolken, sehr gut beschrieben ist.

Der Fall aus den Wolken ist zumeist hart. Und er erzeugt große Verbitterung.

Die Darstellung der Welt, wie sie aus eigener Bequemlichkeit sein soll und wie es andere sehen, die nichts dagegen haben, dass der Trugschluss das Bewusstsein dominiert, hat sich zu einem seltsamen Standard gemausert. Nicht, dass nicht aus jedem Land ein Bild generiert würde, das die eigene Befindlichkeit mit einfließen ließe. Dieses Phänomen lässt sich auf der ganzen Welt beobachten.

Der Umgang mit dem Albtraum

Eigene Vorstellungen und Interessen fließen immer mit ein in das, was sich Welterklärung nennt. Sollte dieses Konstrukt jedoch zu sehr von dem abweichen, was die Gesamtheit der Eindrücke und Deutungen ausmacht, wird das Erwachen zumeist ein Albtraum. Und der Umgang damit will gelernt sein.

Die immer wieder festzustellende Dominanz der eigenen Sichtweise gehört zum täglichen Geschäft der Nachrichtenindustrie. Diejenigen, die dort aktiv sind und an diesem verzerrten Weltbild arbeiten, haben es zum Teil nicht anders gelernt oder sie sind bewusste Funktionäre der Mystifikation. Letztere sind die sogenannten Chefideologen der herrschenden Verhältnisse, die alles daran setzen, um von der durchaus vorhandenen Fährte auf der Suche nach Realität und Wahrheit abzulenken.

Es ist nützlich, genauer zu betrachten, wie sie beruflich sozialisiert wurden, von wo sie Anerkennung erhalten und von wo sie ihr Geld bekommen. Dieses dann zu deuten, ist ein leichtes Spiel.

Erkenntnistheoretisch ist die Überführung der gesellschaftlichen Realität, die die Verhältnisse auf der Welt beschreibt, ebenfalls keine allzu schwere Aufgabe.

Ja, eine absolute Wahrheit existiert außer in philosophischen Konstrukten wohl nicht, aber der einfache Leitsatz, dass die Summe aller relativen Wahrheiten der einen „objektiven“ Wahrheit sehr nahe kommt, dürfte nun doch nicht verblüffen. Ganz im Gegenteil: Das Eingeständnis, dass noch andere Realitäten außer der eigenen existieren, führt zu einem größeren, tieferen Verständnis einer multi-existenziellen Welt, wie sie nicht abgestritten werden kann.

Die multipolare Welt

Eine Chinesin hat einen anderen Blick auf die globale Realität als ein Amerikaner, ein Portugiese sieht die Verhältnisse anders als eine Russin und Australier sehen die Lebensumstände und ihre internationalen Interdependenzen anders als Menschen aus Zimbabwe. Diese einfache, logische und in ihrer Wirkung beträchtliche Erkenntnis ist Grundlage für das, was immer mehr durch den Äther dringt: die Anerkenntnis einer multipolaren Welt.

Die Kommunikation in dieser nicht einem einfachen Schema folgenden Welterklärung, die mit Gut und Böse oder Ost und West oder Nord und Süd beschrieben werden kann und nur in den Dunkelkammern der systematisierten Täuschung existiert, ist schwierig und neuartig.

Sie schließt das koloniale System der Daseinsdarstellung aus und erfordert Plattformen und Kammern der Verständigung, die zum Ziel haben, die vielen subjektiven Wahrheiten mit dem Großen und Ganzen zu arrangieren. Das wird die Widersprüche und unterschiedlichen Interessen nicht beseitigen. Aber es wird dem Duktus die Existenz abgraben, der mit dem eigenen Zentrismus der Betrachtung die Welt verwüstet.


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Illustration: Neue Debatte

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

2 Antworten auf „Zentrismus als Fantasie und der Fall aus den Wolken“

Wie Sie sehr richtig schreiben, Herr Mersmann, bringt der Mensch bei der Betrachtung seiner Verhältnisse immer seine eigenen Ansichten ein, die sich aus vielen Eindrücken und selbstgedachten Konsequenzen zusammensetzen. Sie bestreiten aber, dass es eine absolute Wahrheit gibt. Nach Hegel und Marx gibt es aber diese absolute Wahrheit, und zwar als objektive Wahrheit, die außerhalb der Ansichten und Einsichten des Menschen existiert und die keinesfalls ein “philosophisches Konstrukt” ist. Sie zu finden ist natürlich sehr schwierig, weil die subjektiven Momente sie überdecken. Insofern gehen Menschen immer mit einem Vor-Urteil an die Beurteilung von Verhältnissen und Zusammenhängen heran, was aber nichts an der Existenz der objektiven Wahrheit ändert.

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