Kennen Sie das? Manchmal breitet sich vor einem eine Szene aus, und aus welchen Gründen auch immer, fällt einem ein Zitat oder ein Titel ein, der wie eine Überschrift zu dem gerade Erlebten passt, aber mit dem Kontext, aus dem die Bezeichnung kommt, gar nichts oder nur wenig zu tun hat.
Der Nazi & der Friseur
Mir ging es gestern bei den Nachrichten über die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen so. Als ich das Bild sah, als der dortige AfD-Fraktionsvorsitzende dem neuen FDP-Ministerpräsidenten gratulierte, hatte ich den Titel im Kopf: Der Nazi & der Friseur.
Einmal abgesehen davon, dass die Bezeichnung tatsächlich für beide Seiten zutreffend ist, handelt es sich aber um den Titel eines Romans von Edgar Hilsenrath, ein Schelmenstück erster Güte, das allen an dieser Stelle empfohlen sei, die etwas Lesekompetenz besitzen und mit historischen Kategorien changieren können.
Dass gestern ein Nazi im schönen Thüringen einen Friseur, der sich selbst mit sage und schreibe 73 Stimmen über die Hürde ins Parlament geschleppt hatte, zum Amt des Ministerpräsidenten verholfen hat, war aus Sicht des Regisseurs tatsächlich ein Schelmenstück.
Das letzte Gefecht
Dass die Liberalen bis in die Bundeszentrale dabei mitgespielt haben und sich die CDU der Nummer nicht verwehrt hat, beschreibt die Situation ohne Schnörkel: Der Wirtschaftsliberalismus rüstet zum letzten Gefecht.
Diejenigen, die bei der Vision des Versilberns der verbliebenen sozialen Institutionen und bei der Lektüre des Börsenberichts erotischen Fantasien zum Opfer fallen, sind am Zug.
Lassen Sie sich nicht ablenken, durch das, was jetzt im Nachklang folgen wird! Da werden sogenannte Altliberale öffentlich weinen und die Umstände beklagen und selbst aus der AfD sind ja immer wieder Stimmen zu hören, die für einen, wie auch immer gearteten, gemäßigten Flügel zu sprechen beanspruchen und sich von den Nazis im Zwiegespräch distanzieren.
Ändern wird es nichts, denn die Allianz für einen Durchmarsch gegen die Reste des Sozialstaates und für eine nach außen gerichtete Militarisierung steht: Von Schäuble und Merz über Lindner bis hin zu den Freunden vom berüchtigten Flügel.
Wer derartige Thesen als zu gewagt ansieht, sehe sich noch einmal die Geschichte der Machtergreifung der historischen Nazis in den Geschichtsbüchern an.
Die Realitäten erkennen
Der auf das bürgerliche Dasein ausgerichtete Liberalismus wird sich in Luft auflösen und die letzten Träumer in der AfD werden durch die Analogie eines Röhm-Putsches aus dem Fenster geworfen werden. Wem die Geschichte zu weit hinten liegt, sehe sich die Entwicklung der Türkei in den letzten fünf Jahren an. Dort wurde das Drehbuch der faschistischen Machtergreifung soeben aktualisiert.
Es geht längst nicht mehr um Spekulationen besonders Besorgter, sondern es geht um eine Realität, der nur durch Realität begegnet werden kann.
Das, was bei bestimmten Anlässen als Zivilcourage immer wieder angemahnt wird, ist jetzt Pflicht. Wenn der Nazi und der Friseur bei der Posse in Thüringen nicht die Augen geöffnet haben, dann ist es zu spät und Dante Alighieri kann getrost zitiert werden: Wenn du hier eintrittst, lass alle Hoffnung fahren.
Widerstand
Oder aber es gelingt der Schulterschluss derer, die es ernst meinen mit den Grundrechten, mit Meinungs- und Koalitionsfreiheit, die es ernst meinen mit lebenswürdigen Existenzbedingungen und die sich keine Feindbilder, für die es sich zu sterben lohnte, einreden lassen wollen. Zeigen wir bei jedem Atemzug die Zähne!
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
4 Antworten auf „Der Nazi & der Friseur“
Hallo Herr Mersmann, wie immer ein super Beitrag .
Aber … was ist mit ihrem Bild passiert ? Sie sehen darauf so angepasst aus, das alte Bild war einfach besser, oder das auf form7 is auch gut. Das sind Sie ! Da sehe ich, da weiß einer Bescheid :) unangepasst, überlegen, souverän :)
Kleider machen Leute, es ist eben so, oder wollen Sie auch einen schönen Posten bei L & B international invest ? Nun, erstmal eine schöne Woche.
Ihr treuer Leser Peter Martin
Lieber Herr Martin, keine Sorge, ich suche keinen Job. Das für mich höchste Gut war immer eine innere Unabhängigkeit. Leider offenbaren beide Bildkategorien etwas von mir. Damit müssen Sie leben! Ich hoffe, ich kann dennoch weiter zu Ihrer genossenen Lektüre ein klein wenig etwas beitragen! Gerd Mersmann
Danke für die schnelle Antwort. Ja, das ist auch die Vielfalt die in jedem steckt, weil wer bin ich, wenn ich niemand sein muss? Aber jetzt gleite ich ab. Ich bleibe ein treuer Leser :) vG Peter Martin
Dann bin ich beruhigt!