Der Europaabgeordnete Martin Sonnenborn von Die Partei, seinerseits bekannt für manch lakonischen Kommentar, brachte es auf den Punkt: Wenn man mit fünf Prozent der Stimmen Bundeskanzler werden kann, so sagte er, dann wechsle ich sofort nach Berlin!
Erfurt als Phänomen?
Ja, so einfach kann es sein. Bei allen hitzigen Diskussionen über das Debakel in Thüringen, in denen immer wieder auch Stimmen laut wurden, es handele sich dabei um ein typisches Phänomen der Demokratie, dass es wechselnde parlamentarische Mehrheiten nun einmal gebe, ob einem das schmecke oder nicht, ist eine Tradition, die zum Selbstverständnis der formalen Demokratie gehört, kalkuliert unter den Tisch gefallen: Es handelt sich um das Recht der am stärksten vertretenden Fraktion, auch das höchste Amt zu besetzen.
Ein Blick sowohl auf den Bundestag als auch auf die Landesparlamente zeigt, dass dieses bis zu dem denkwürdigen Tag in Thüringen bis heute überall galt.
Der Wille, den amtierenden Ministerpräsidenten Bodo Ramelow zu verhindern, hat mit dieser Tradition zumindest in den Köpfen der Komplotteure bei FDP, CDU und AfD Schluss gemacht. Das ist der eigentliche Dammbruch. Es wird mit dem Argument der Wechselhaftigkeit demokratischer Entscheidungen endgültig auf das Wählervotum geschissen.
Die selbst ernannten Demokraten
Stärkste Partei bei den Wahlen in Thüringen war die Linke. Demnach haben sich die meisten der Wählerinnen und Wähler für eine Fortsetzung einer Regierung unter Ramelows Führung entschieden. Hätte Ramelow in den vergangenen vier Jahren eine Politik verfolgt, mit der er nun von den Putschisten identifiziert wird, wäre das Ergebnis sicherlich ein anderes gewesen. Ihn als einen Vertreter der alten SED-Herrschaft zu klassifizieren, ist ein Manöver, das durch keinerlei Beleg untermauert werden kann.
Die selbst ernannten Demokraten, die sich vor keiner Koterei fürchten, haben mit dem rechten Rand paktiert, um den sogenannten linken Rand zu verhindern. Beschämend einfältig, doch folgerichtig und schlüssig.
Erinnerung an Max Reimann
Ja, manchmal ist es wichtig, sich in den Annalen noch einmal zu vergewissern. Max Reimann, sicherlich eine schillernde Figur und letzter Vertreter der KPD vor ihrem Verbot im Jahr 1956 war es, der bei der parlamentarischen Erörterung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland den prophetischen Satz von sich gab, seine Partei sei gegen das Grundgesetz – übrigens, weil ihr die Klärung der Eigentumsverhältnisse und deren gesellschaftlicher Verpflichtung nicht weit genug ging –, aber seine Partei werde diejenige sein, die es irgendwann am vehementesten verteidigen müsse.
Und so, wie es aussieht, ist die Notwendigkeit gegeben, das Mehrheitsprinzip, das durch das Votum des Souveräns bis heute galt, gegen diejenigen zu verteidigen, die sich bis dato mit dieser Verfassung brüsteten und nun in einem Rausch der Machtbesessenheit davon Abstand nehmen.
Die Erfurter Vorfälle sind ein leuchtendes Signal für die Verhältnisse, die sich in bestimmten Parteien mittlerweile etabliert haben. Und wie sie es rezipieren, zeigt, dass sie an ihrem Kurs festhalten wollen.
Die Bürgerproteste, die sich an den Eklat im Landtag anschlossen, als Aufmarsch von Sturmtruppen des linken Totalitarismus darzustellen, deutet auf eine sich zum Chronischen gesteigerten Gemütslage hin. Wenn sie von Sturmtruppen reden, erzählen sie von sich selbst. Ein Phänomen, das nicht selten ist.
Es ist zu hoffen, dass der Souverän noch einmal zu Wort kommt. Und, bitte, nichts vergessen!
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
3 Antworten auf „Erfurt und die Sturmtruppen gegen den Souverän“
“Es ist zu hoffen, dass der Souverän noch einmal zu Wort kommt. Und, bitte, nichts vergessen!”
Die Souveräne sollten natürlich, unabhängig vom ‘Thüringer Debakel’ mehr als einmal zu Wort kommen. ‘Mehr Demokratie wagen’ ist das Gebot der Stunde, z.B. durch: Bürger_innen-Räte per Losverfahren
https://www.mehr-demokratie.de/news/voll/mit-buergerraeten-politik-mit-den-menschen-gestalten/
Dieses Gequatsche von den extremistischen Rändern, vom Hufeisen ist eigentlich nur eine Maskerade, denn die “bürgerlichen Mitte”-Parteien sehen ihren Feind ausschließlich links. Sie haben noch immer mit Rechts gekungelt und gekuschelt, wenn es genutzt hat und möglich war. Noch gab es einen Aufschrei der Gesellschaft und tatsächlich auch noch der Medien bei diesem Versuch.
Wenn beim nächsten, vielleicht weniger offensichtlichen Versuch die heftigen Reaktionen ausbleiben, dann etabliert sich diese Zusammenarbeit. In so vielen Bereichen ist der Weg schon vorbereitet, rechte Netzwerke in den Sicherheitsbehörden, Polizeigesetze, neue Gebührenordnung für Polizeimaßnahmen, die Demonstrieren möglicherweise sehr kostspielig macht, Abfilmen und Gesichtsspeicherung auf Demos etc.etc.
Sehr lesenswerte Zusammenfassung mit weiterführenden Fragestellungen zum “Erfurter Desaster” auch hier:
https://www.claudia-klinger.de/digidiary/2020/02/11/wie-weiter-nach-erfurt/