Krisen lösen etwas aus. Entsetzen, Protest, Wut. Das sind Gefühle. Sie sind als erstes da und bleiben nicht lange feurig. Schon nach kurzer Zeit flauen Emotionen wieder ab. Wer sie beibehält, ist dabei sie zu ritualisieren und landet in der großen Leere.
Die Nuancen
Nach dem Abflauen der Gefühle beginnt der Versuch, sich die Krise zu erklären. Das ist oft nicht einfach, weil es sich, und egal, ob wir von politischen und ökonomischen oder Beziehungskrisen reden, um sehr komplexe Vorgänge handelt.
Da ist nicht ein Grund, der alles zum Wackeln bringt. Da sind viele kleine Nuancen, die eine ebenso große Rolle spielen wie die Galionsfigur, unter der Verständlichkeit halber so vieles subsumiert wird. Und weil es so kompliziert ist, verweigern sich viele dieser aufreibenden Arbeit, die zudem unter dem Stressfaktor Zeitdruck steht, weil ja ein Ausweg aus der Krise gesucht werden muss.
So gehört es zu den üblichen Folgen von Krisen, dass sich zwei große Lager bilden, die beide nicht auf die Zukunft gerichtet sind, sondern aus dem Schock emotional wie intellektuell ihre eigene Konsequenz ableiten.
Hysterie und Eskapismus
Zur ersten Gruppe gehören die Hysteriker, die die Krise in Folge für alles verantwortlich machen, was in ihrem Leben nicht mehr so gelingt, wie gewünscht. Sie sind mit ihrem Erklärungsinstrumentarium am Ende und gleichen den Elenden und Heulenden, die fernab der Perspektive in einer Einöde sitzen und das Schicksal verfluchen.
Bei der Betrachtung dieser Gruppe fällt auf, dass sich seit der Finanzkrise 2008, der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016 und dem aktuellen Brexit viele aus der Nachrichtenbranche rekrutieren. Das ist bemerkenswert, sollten doch gerade von dort Instrumente der Analyse und Aufklärung angeboten werden. Stattdessen wird die Branche zunehmend selbst Opfer der eigenen Mystifikation.
Die andere Gruppe, die sich mit der Krise aus der aktiven Lebensgestaltung verabschiedet, möge als die der Eskapisten bezeichnet werden. Sie halten sich nicht lange nach der Wehklage auf, sondern sie sondieren das persönliche Terrain nach der Möglichkeit, sich individuell durch Flucht zu retten: Raus aus den Kontexten, rein in die Nischen!
Weitere Varianten
Die verschiedenen Formen des Eskapismus variieren sehr. Mal sind es tatsächliche physische Fluchtbewegungen, die zu verzeichnen sind, und mal trifft man sie als Skulpturenbildner am portugiesischen Strand oder als Grillmeister in einem Steakhouse in Montevideo.
Die anderen Formen des Eskapismus sind subtiler. Da gibt es diejenigen, die sich in ein Denkschema begeben, dass ihnen die Referenz erweist, schon immer gewusst zu haben, dass alles zu nichts Gutem führt. Sie werden nicht müde, jeden Versuch, der sich um das Neue bemüht, mit dem Verweis zu diskreditieren, dass das auch im Desaster enden müsse.
Und eine weitere Strömung flüchtet sich in die große Weltgeschichte, spricht nur noch von den großen Linien und dass sich alles wiederhole. Auch sie sind mit dieser Einstellung völlig zufrieden und sehen sich nicht in der Verantwortung, nach Möglichkeiten der Gestaltung zu suchen.
Das Dopamin mobilisieren
Die Enttäuschung ist eine schwere Keule und nicht jeder Mensch kann mit ihr konstruktiv umgehen. Niemand, so die Behauptung, ist, je nach Krise, vor Hysterie wie Eskapismus gefeit. Dazu sind wir alle zu sensibel. Es ist jedoch wichtig, sich dessen bewusst zu sein und sich untereinander dabei zu helfen, den Blick darauf zu richten, was sein wird. Das ist die Denkweise, die das Dopamin wieder mobilisiert. Dann kommt das Positive zurück. Mit der Perspektive wächst der Mut.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Hysterie und Eskapismus nach der Krise“
Ja, “Das Dopamin mobilisieren” auf erbauliche Weise. Das gelingt
der Verfasserin des folgenden Beitrages (auf den ich bereits an anderer Stelle hingewiesen habe) sehr gut:
https://www.claudia-klinger.de/digidiary/2020/02/11/wie-weiter-nach-erfurt/
“Das Dopamin mobilisieren” ist ein guter Ansatz, die Pillen dafür gibt es nicht in den Partei-Apotheken; sonst bleibt der Kurs reformistisch im bestehenden Rahmen, der keine Zukunft hat. So schlimm es ist, die AfD hat die Linie nicht nach rechts verschoben, wie der o.g. Blogbeitrag auf digidiary vermittelt, sondern den Weg in den Faschismus machen die Systemparteien frei. Das Märchen, alle seien irgendwie links, weil die AfD rechts ist, funktioniert, obwohl in Wahrheit CDU, CSU, FDP, SPD und Grüne voll sind mit neoliberalen Sozialrassisten, Kriegstreibern und Faschos, die gedanklich den Neonazis am Rock hängen. Überwachung, Abschiebung, Militarisierung, Repression gegen die Armen, Hartz4-Regime – alles bürgerliche Aktionen.