Affekte und Emotionen stellen eine zentrale Dimension im zwischenmenschlichen Miteinander dar. Seit Ewigkeiten beeinflussen sie das gesellschaftliche Geschehen. Wie sie sich in der Gegenwart auf unser Leben, unsere Beziehungen und den politischen Raum auswirken, darüber sprach Deborah Ryszka mit Jan Slaby, Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin.
Deborah Ryszka: Herr Slaby, Sie leben in Berlin. Viele Leute, immer ist etwas los und die Gefahr daher gegeben, im Modus der Dauererregung gefangen zu bleiben. Inwiefern prägt das Ihr Gefühlsleben?
Jan Slaby: Die Großstadt ist eine Affektmaschine, aber sie bietet vor allem auch unterschiedliche Milieus und Rückzugsräume, und man lernt mit der Zeit, da hindurch zu navigieren, so dass es einem meistens ganz gut tut. Als Theoretiker findet man da seinen eigenen Rhythmus. Ich versuche mich von den hektischeren Aspekten des Stadtlebens eher fern zu halten und mich auf die spannenden Dinge zu konzentrieren, die mich umtreiben – im eigenen Tempo. Allerdings ist die nächste Erregungswelle nie weit entfernt – irgendwas passiert immer, und dem kann man sich nie ganz entziehen. Es geht in Berlin schon etwas schneller, hektischer, vielleicht auch etwas verrückter zu als an manch anderem Ort in Deutschland.
War das der Grund, warum Sie angefangen haben, sich in Ihrer Forschung mit Emotionen und Affekten auseinanderzusetzen?
Nicht nur, aber der Einfluss der Großstadt – und damit der Blick auf menschliche Lebensverhältnisse in technologisch hochentwickelten Umgebungen, auf soziale Dynamiken und kulturelle Muster – hat mein Verständnis von Emotionsforschung geprägt. Unsere Gefühle sind nicht einfach irgendwelche biologischen Mechanismen, die wir seit Urzeiten unverändert mitschleppen. Emotionen und Affekte sind bis ins Feinste geprägt von Lebensverhältnissen, von der Art, wie wir wohnen, wie wir uns durch den Raum bewegen, welche Geräte wir nutzen oder davon wie wir unser soziales Zusammensein gestalten, welche Institutionen für uns bedeutsam sind, und und und. Mich hat an Emotionen immer diese einerseits technische, andererseits soziale beziehungsweise gesellschaftliche Dimension interessiert.
Letztes Jahr gaben Sie und Ihr Kollege Christian van Scheve den Sammelband „Affective Societes“ heraus. Warum dieser Buchtitel?
Das hat zunächst den ganz banalen Grund, dass das der Name unseres Forschungsverbundes ist. Dieser Band stellt 30 Grundbegriffe unseres Sonderforschungsbereichs Affective Societies vor. Sie fragen aber natürlich nach dem inhaltlichen Sinn dieses Titels. Nun, wir glauben, dass Affekte und Emotionen eine zentrale Dimension des menschlichen Zusammenlebens ausmachen, sodass eine Theorie der Gesellschaft an der Affektivität nicht vorbei kommt. Affekte spielen nicht etwa nur in sozialen Nahverhältnissen, in Intimbeziehungen, in Familien und in Kleingruppen eine Rolle, sondern gerade auch im Bereich von Institutionen und größeren sozialen Formationen. Das ist nicht erst seit dem Aufkommen populistischer Affektpolitiken vor einigen Jahren klar – das war immer schon so.
Welche Rolle spielen hierbei soziale Medien wie zum Beispiel Twitter und Instagram?
Eine wichtige Rolle, aber das gilt für alle gesellschaftlichen Leitmedien. Die menschliche Affektivität ist stets ein Medienphänomen, eine durch Medien geformte und überformte Dynamik. So sind unsere Liebesvorstellungen im Westen nicht zu trennen von einer bürgerlichen Innerlichkeit, die im europäischen Roman ihren Ausdruck fand. So etwas wie eine öffentliche oder politische Stimmungslage ist überhaupt erst denkbar seit es die Presse und andere überregionale Informationsmedien gibt. Heute geben die sozialen Medien für viele Formen von Affektivität den Takt vor. Man muss sich aber vor zu einfachen Erklärungen hüten: Es ist nicht so, dass mit dem Aufkommen von Facebook, Twitter oder Instagram unser Gefühlsleben komplett umgekrempelt wurde. Allerdings ist zu beobachten, dass bestimmte heftige, menschenfeindliche Affekte in der Distanz und Anonymität sozialer Medien ungehemmter ausgedrückt werden und auch anders nachwirken als zuvor.
Wie wirkt sich das auf die Gesellschaft aus?
Das hat dazu geführt, dass wir heute eine stark affektiv „geladene“ Öffentlichkeit haben. Schon kleinste Anlässe führen zu Shitstorms; wenige Personen können mit gezielten Provokationen große Erregungswellen auslösen, und wer es nicht schafft, in der Öffentlichkeit emotional zu wirken, durchzudringen mit seinen Impulsen, der hat es in der Politik schwer. Die mentale Ökologie der Gesellschaft hat sich verändert. Wo früher ein stabiler öffentlicher Diskurs (im Singular) in der Hand weniger Gatekeeper – Qualitätspresse, öffentlich-rechtlicher Rundfunk – die gesellschaftliche Kommunikation dominiert hat, sorgt die neue Medienlandschaft dafür, dass es zahlreiche zersplitterte Diskurs-Nischen gibt, Teilöffentlichkeiten, geschlossene Milieus, in denen bisweilen gefährlicher Irrsinn verbreitet wird. Insgesamt lässt sich von einer Destabilisierung politischer und zivilgesellschaftlicher Institutionen sprechen, da deren Akzeptanz nicht mehr so fraglos ist wie früher. Die sozialen Medien spielen dabei eine Rolle, sind aber nicht der einzige Faktor.
Weil Sie öfter die Unterscheidung zwischen Emotionen und Affekten machen: Was ist der Unterschied zwischen Affekten und Emotionen?
Affekt ist bei uns der Grundbegriff, mit dem wir dynamische Wirkverhältnisse zwischen Personen, Gegenständen und Umgebungen fassen; Beziehungen, die uns prägen, die unsere Handlungsfähigkeit beeinflussen, auch wenn sie uns oft gar nicht bewusst sind. Emotionen sind dagegen die allseits bekannten Gefühlsepisoden, die individuell, bisweilen auch kollektiv, erlebt werden: also Furcht, Freude, Scham, Trauer, Eifersucht, Ärger, Stolz und so weiter; es gibt sehr viele solcher Emotionstypen. Dabei handelt es sich um konkrete Weltbezüge, die eng mit Handlungsbereitschaften zusammenhängen und für die es ein ausgefeiltes kulturell akzeptiertes Vokabular gibt. „Affekt“ ist demgegenüber einerseits der grundlegendere Theoriebegriff, der auch Prozesse umfasst, die nicht bewusst erlebt werden und für die es noch keine sprachliche Benennung gibt. Andererseits sprechen wir von Affekt auch, um Irritationen oder Störungsmomente in etablierten Ordnungen zu bezeichnen, wenn also unsere routinierten Weltbezüge brüchig werden: etwas stimmt nicht, es fühlt sich nicht mehr richtig an, wir können aber noch nicht genau benennen, was da los ist.
Neben Affekten und Emotionen sprechen Sie auch von „affektiver Relationalität“? Was genau meinen Sie damit?
Affektive Relationalität ist ein zentraler Theoriebegriff, mit dem wir signalisieren möchten, dass Affekte nicht im Individuum stecken, sondern in den Relationen, den Beziehungen zwischen Personen, sowohl untereinander als auch zu den jeweiligen Umgebungen. Das ist quasi unser Mantra bei Affective Societies: Affektivität ist ein Beziehungsgeschehen. Sie finden den Affekt nur, wenn Sie die Dynamiken betrachten, die uns miteinander und mit der Umgebung verbinden. Wir sprechen auch von affektiver Resonanz oder Dissonanz, um diese grundlegende Schwingungsfähigkeit zu fassen. Das ist aber nur der Ausgangspunkt der Theorie. Es kommt dann vor allem darauf an, in welchen konkreten Situationen sich die affektive Relationalität ausgestaltet und sich konkret auf das Handeln von Personen auswirkt. Hier sprechen wir von „affektiven Arrangements“: den vielfältigen lokalen Gefügen, die uns affektiv einbinden oder ausschließen, denken Sie an Einkaufszentren, ans Fußballstadion, an ein Klassenzimmer, an die Konzerthalle oder den Gerichtssaal. Auch das heimische Wohnzimmer, eine Szenekneipe oder eine Lounge am Flughafen sind solche Affizierungsgefüge. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass man sich affektive Relationalität als ein Machtgeschehen vorstellen muss – hier wirken Kräfte, und diese Kräfte konfigurieren menschliche Handlungs- und Existenzmöglichkeiten. Damit ergibt sich der Übergang zur Politik: Affektivität ist nicht harmlos, nicht neutral, weil sie Träger von Machtbeziehungen ist, weil sie einbindet oder ausschließt, befähigt oder lähmt.
In Ihrem Buch sprechen Sie davon, dass affektive, kognitive und volitionale, also willentliche Elemente miteinander verwoben sind. Welche Komponente dominiert Ihrer Meinung nach?
Diese Aufteilung in Komponenten ist eigentlich irreführend, auch wenn es als einleitende Bemerkung hilft, die Komplexität der menschlichen Affektivität besser zu verstehen. Die Unterteilung in Komponenten stammt aus der Psychologie, wo es darum geht unterschiedliche Faktoren zu identifizieren, um sie experimentell zu isolieren und dann messen zu können. Alle guten Psychologinnen und Psychologen sagen aber dazu, dass es sich dabei um „Konstrukte“ handelt, die nicht eins zu eins in der Wirklichkeit so auftreten. Entsprechend ist die Rede von der Dominanz irgendeiner dieser vermeintlichen Dimensionen nicht hilfreich. Wir sollten uns aber klar machen, dass Affektivität uns sehr tiefgreifend mit unserer jeweiligen Umwelt in Beziehung setzt, und dass diese affektive Relationalität für uns prägend ist – insbesondere für unsere Handlungsmöglichkeiten, aber auch für das, was wir Erkennen, was wir Denken, wie wir uns in der Welt orientieren. Unsere affektiven Beziehungen zur Umgebung machen uns zu dem, was wir sind.
Welche Auswirkungen hat das auf die Gesellschaft?
Es bedeutet, dass es nicht egal ist, in welchen Umgebungen wir leben, wie die Umwelten des menschlichen Zusammenlebens gestaltet sind, womit wir uns im Alltag umgeben. Gesellschaften sind Gefühlsräume, und Personen sind von diesen Gefühlsräumen – den affektiven Arrangements, wie wir es nennen – bis ins Kleinste geprägt. Deshalb ist es so verheerend, wenn sich Formen des Zusammenlebens entwickeln, die auf Misstrauen, Ressentiment oder Angst gegründet sind, oder wenn die Möglichkeiten der zwischenmenschlichen Begegnung verknappt werden, etwa durch Privatisierung des öffentlichen Raums oder durch den Abbau von Institutionen, die das Gemeinwohl fördern. Je weniger frei zugängliche nicht-kommerzielle Bereiche des Zusammenlebens, desto mehr Versteifung auf die eigene Nahwelt, was zu Isolierung, zu irrationalen Abneigungen und Engstirnigkeit führen kann. Kurz: die Frage des öffentlichen Raums ist zentral, nicht nur politisch, sondern auch affekttheoretisch.
Der Soziologe Ferdinand Tönnies, aber auch Max Weber, ordnete Affekte und Emotionen gemeinschaftlichen Gruppierungen wie etwa der Familie zu. Die Rationalität begreifen Sie konstitutiv für die Gesellschaft. Trifft das noch heute zu?
Wie schon gesagt sehe ich das anders: die Affektivität verschwindet in den gesellschaftlichen Formationen nicht, sondern ändert nur ihre Gestalt. Gesellschaftliche Institutionen und Funktionssysteme wirken immer auch als Affizierungsapparate, sie binden Personen auf unterschiedliche Weise ein, erzeugen also Gefühle der Zugehörigkeit oder des Ausgeschlossenseins, und es kommt entscheidend auf das Vertrauen und die Bereitschaft der Staatsbürger an, sich an gesellschaftliche Regeln zu halten. Ohne zahlreiche affektive und emotionale Prozesse funktioniert Gesellschaft nicht, und umgekehrt wirkt die Gesellschaft tief in die Affektivität der Individuen hinein. Das ist ja in Deutschland bis heute spürbar, wie die beiden Systeme BRD und DDR unterschiedliche Mentalitäten und affektive Muster ausgeprägt haben. Wer Affekte und Emotionen auf das private Umfeld beschränkt, blendet also ganz Wesentliches aus, außerdem ist das private Umfeld stets auch mitgeprägt von gesellschaftlichen Logiken.
Zum Abschluss: Ist schon ein neues Buch in Planung?
Ja, ich arbeite gemeinsam mit einem Kollegen an einem Buch über politische Affektivität. Unsere bisherige Forschung bei „Affective Societies“ läuft genau darauf hinaus: Affekte und Emotionen sind entscheidende Faktoren im Politischen; Politik ohne Affekt gibt es nicht, und das muss auch so sein. Was wäre denn eine politische Initiative, wenn da nicht Leidenschaft, Begeisterung und dergleichen drin steckt? Kann man sich Politik ohne entschiedene Gegnerschaft, ohne ein Ringen um Anerkennung und Aufmerksamkeit vorstellen? Das sind alles affektive Vorgänge, die das politische Geschehen antreiben und aufladen. Allerdings ist das Verhältnis von Politik und Affekt bisher oft einseitig oder verkürzt betrachtet worden. Wir brauchen ein differenziertes Bild, denn nur so lassen sich die jüngsten Veränderungen und Verwerfungen im Politischen richtig einschätzen.
Jan Slaby ist Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Philosophie des Geistes, Sozialphilosophie und Philosophische Anthropologie. Neben seinen zahlreichen Publikationen und Beiträgen veröffentlichte er auch Bücher wie „Affective Societies: Key Concepts (2019, Routledge) und „Affekt – Macht – Netz“ (2019, transcript), welches online frei verfügbar ist. Zudem ist Slaby Mitglied des Vorstands im Sonderforschungsbereich der Freien Universität Berlin CRC 1171 „Affective Societes: Dynamics of Social Existence in Mobile Worlds“ (www.sfb-affective-societies.de) sowie Mitglied des erweiterten Vorstands der Deutsche Gesellschaft für Philosophie (DGPhil).
Illustration und Foto: Neue Debatte
Deborah Ryszka (Jahrgang 1989), M. Sc. Psychologie. Nach universitär-berufspsychologischen Irrwegen in den Neurowissenschaften und Erziehungswissenschaften nun mit aktuellem Lager in der universitären Philosophie. Sie versucht sich so weit wie möglich der gesellschaftlichen Direktive einer hemmungslosen öffentlichen Selbstdarstellung bis hin zur Selbstaufgabe zu entziehen. Mit Epikur ausgedrückt: „Lebe im Verborgenen. Entziehe dich den Vergewaltigungen durch die Gesellschaft – ihrer Bewunderung, wie ihrer Verurteilung. Lass ihre Irrtümer und Dummheiten und gemeinen Lügen nicht einmal in der Form von Büchern zu dir dringen.“