Als Frau Von der Leyen schließlich zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt wurde, blickten viele hier im Lande auf einen Wahlkampf zurück, der um möglichst starke demokratische und freiheitliche Stimmen im Europäischen Parlament warb.
Machtspiele
Immer wieder war betont worden, dass es bei den Wahlen um das großartige Friedensprojekt Europa ginge, um den Frieden, das freie Reisen und um die Völkerverständigung per se. Vor allem vor dem Hintergrund des Brexit-Debakels hatten sich tatsächlich viele Menschen mobilisieren lassen und sich für die kommunizierten Ideen engagiert.
Kurz, es war von allem die Rede, nur nicht von Frau Von der Leyen. Die wurde angeblich von dem Musterschüler des Liberalismus, Emmanuel Macron, aus dem Hut gezaubert, als die Machtspiele losgingen.
Mit ihr kam eine Kandidatin ins Spiel, die in ihren Reden, auch als Verteidigungsministerin, immer sehr viel von Werten sprach, in ihren Taten jedoch Bilanzen zurückließ, die zu Untersuchungsausschüssen führten. Und: sie wurde gewählt. Und zwar mit den Stimmen der äußersten Rechten.
Ode to Joy
Das war vor Thüringen und scherte niemanden, weder die Wertekoalition, noch die momentan außer Rand und Band geratenen Medien. Spätestens zu diesem Zeitpunkt musste die Frage gestellt werden, was wohl in den Menschen vorging, die während des Europawahlkampfes mit blauen Sternenfähnchen bewaffnet an Kundgebungen teilgenommen und beim Absingen der europäischen Ode to Joy eine Gänsehaut bekommen hatten?
Was müssen sie denken, wenn sie jetzt erfahren, dass diese Präsidentin folgerichtig schweigt, wenn in Polen, wie in den Gesellschaften vor siebzig Jahren, zum Beispiel Homosexuelle wieder Kriminalisiert werden?
Sicherlich werden sie traurig sein, sie werden enttäuscht sein, sie werden sich betrogen fühlen und einige werden zornig sein. Und sie werden noch zorniger werden, wenn niemand aus dem ganzen Ensemble der aktiven Europapolitikerinnen und Europapolitiker dieses Schweigen zum Anlass nimmt, um den sofortigen Rücktritt und Neuwahlen zu fordern.
Ja, der Zorn wird größer werden, und, wenn die Zorndepots einmal voll sind und sich entladen, dann findet eine gesellschaftliche Verrohung statt, die es irgendwann unmöglich macht, die konkrete Ursache für barbarisches Verhalten herauszufinden.
Verrohung und Doppelmoral
Der Fall Von der Leyen ist nur einer von vielen. Die komplette Bundesregierung, die – auch wieder und noch unter der Verantwortung Besagter in dem wegen geostrategischer Erwägungen, die amerikanischen Ursprungs sind – sich auf die Beteiligung am Syrienkrieg eingelassen hat, die einen Deal mit dem Installateur einer fortschreitenden Diktatur in der Türkei eingegangen ist, sie argumentiert, wenn die unflätigen Bündnisse stinkende Ergebnisse hervorbringen, wie sollte es anders sein, mit humanitären Katastrophen, die nun zu vermeiden seien.
Es sei nur angemerkt, dass die Katastrophe darin besteht, eine Politik ohne Prinzipien zu betreiben. Ja, auch Prinzipien haben ihren Preis – und er kann hoch sein. Eine Politik ohne Prinzipien führt allerdings (a), wie alleine die beiden angeführten Beispiele unterlegen, zu schlechten Ergebnissen, die ihrerseits einen absurd hohen Preis haben und (b) zu einer Verrohung der Gesellschaft aus einer tiefen Enttäuschung heraus.
Diese kostspielige wie sittenwidrige Politik hat einen Namen: Es ist die Politik der Doppelmoral. Es sei angemerkt, dass dieser Wirkungszusammenhang nicht nur in der Politik, sondern überall besteht: im Arbeitsleben, in der Wirtschaft, in der Kultur!
Unten muss es richten
Durch unzuverlässiges Verhalten in Krisensituationen, durch Umdeutung des eigenen Dilettantismus in moralisch erstrebenswertes Verhalten werden die existierenden Vorstellungen von der Befindlichkeit zivilisatorischer Werte pervertiert und das Aufladen der Zorndepots befeuert.
Den Demagogen sei versichert, dass sehr gut unterschieden werden kann zwischen den Ursachen der Verrohung und der Verrohung selbst. Und denen, die meinen, die Verrohung selbst sei bereits Protest, sei übermittelt, dass sie damit gründlich falschliegen. Die Verrohung ist das Produkt einer missratenen Politik und birgt nichts in sich, was in die Zukunft weist.
Es ist, wie nach dem Thüringendebakel bereits angeregt, zu überlegen, welche Wege dazu führen, schlechte Regierungen zu verhindern. Die Heilung kann nur von unten kommen, so viel scheint gewiss!
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Auf die Verrohung folgt die Doppelmoral“
Friedensprojekt Europa, freies Reisen, Völkerverständigung in Ordnung. Aber freie Marktwirtschaft, unsozialer Wirtschaftslieberalismus. Aushebelung der Parlamente sind die großen Nachteile des Staatenverbundes EU. Daher ist dieses Gebilde abzuschaffen. Zudem liegt für Deurtschland ein Verstoß gegen Art. 23 Grundgesetz (Fassung Okt. 2008) vor