„Alle Zeit drängt nach vorn – das Lebendige, und regt sich, zwischen Liebe und Zorn reift der Mensch, und er bewegt sich auf sich zu immer mehr, was für den nicht angenehm ist, der am Hintern zu schwer und im Kopfe zu bequem ist“, heißt es in dem von Gerulf Pannach getexteten Lied „Zwischen Liebe und Zorn“ der Klaus Renft Combo.
Liebe als Lebensgefühl
„Revolution“, so fährt Pannach fort, „ist das Morgen schon im Heute, ist kein Bett und kein Thron für den Arsch zufriedner Leute, denn sie lebt in dem Sinn, dass der Mensch den Menschen Wert ist, dass der Geist der Kommune dem Genossen Schild und Schwert ist”.
Sein zu können empfinden Menschen als aus Liebe geschehen, wahre Liebe macht uns wirklich. Sein zu können bedeutet für die Menschen, die Wirklichkeit in ständiger Vervollkommnung zu wollen. Sein zu können heißt für uns Menschen, dass wir das Gegenwärtige liebevoll zu unserer Zufriedenheit umgestalten müssen.
Zwischen Liebe und Zorn, Neugier und Trotz bewegen sich die Menschen und verändern sich und ihre Wirklichkeit dabei ständig. Das stellte auch Johann Wolfgang von Goethe immer wieder fest:
„Alle Liebe bezieht sich auf Gegenwart“, schriebt der Dichter 1827 in seiner Schrift “Über Kunst und Altertum”. Und weiter: „(…) was mir in der Gegenwart angenehm ist, sich abwesend mir immer darstellt, den Wunsch des erneuerten Gegenwärtigsein immerfort erregt, bei der Erfüllung dieses Wunsches von einem lebhaften Entzücken, bei Fortgang dieses Glücks von einer immer gleichen Anmut begleitet wird, das eigentlich lieben wir, und hieraus folgt, dass wir alles lieben können, was zu unserer Gegenwart gelangen kann; ja, um das Letzte auszusprechen: die Liebe des Göttlichen strebt immer darnach, sich das Höchste zu vergegenwärtigen.“
Was Liebe ist, kann nicht genau in Sprache ausgedrückt werden. Sie ist aber sehr wohl ein vom Verstand wahrnehmbares, das Sein bewusst machendes Lebensgefühl.
Die Unendlichkeit
Omnipotente Wahrheit erhob chaotisches Sein liebevoll zu sich fortschreitend ordnender Wirklichkeit. Seit der sogenannte Urknall die Evolution unseres Universums verursachte, bewegt sich unsere Wirklichkeit in einem sowohl unendlich dichten als auch unendlich dehnbaren Raum-Zeit-Kontinuum, bewegt sich Materielles in ständiger Veränderung.
Aus der Vergangenheit kommend und die Zukunft bestimmend ist stets das Gegenwärtige wirklich wahr, so auch unser menschliches Dasein. Während Gestriges im Heute aufgeht, keimt darin schon das Morgen, heftige Umwälzungen dabei müssen nicht schrecklich sein, sie sind sowohl in Liebe erstrebte, als auch durch Zorn motivierte Leistungen der Menschen, die Qualitätssprünge der Wirklichkeit in größeren Fortschritt hinein ermöglichen.
Was den Menschen in der Gegenwart angenehm ist, das ist es, was sie lieben, von dem sie das Gefühl zu leben empfangen, mit dem sie umgehen wollen und für dessen Verbleiben in ihrem gegenwärtigen Dasein sie alles tun.
Der Philosoph des dialektischen Denkens, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, zitiert dazu in seiner “Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse” den großen islamischen Mystiker Maulana Dschelaleddin Rumi in einer Übersetzung Friedrich Rückerts:
„Ich sage dir, wie aus dem Ton der Mensch geformt ist: Weil Gott dem Tone blies den Odem ein der Liebe.
Ich sage dir, warum die Himmel immer kreisen: Weil Gottes Thron sie füllt mit Widerschein der Liebe.
Ich sage dir, warum die Morgenwinde blasen: Frisch aufzublättern stets den Rosenhain der Liebe.
Ich sage dir, warum die Nacht den Schleier umhängt: Die Welt zu einem Brautzelt einzuweihn der Liebe.
Ich kann die Rätsel dir der Schöpfung sagen: Denn aller Rätsel Lösung ist allein die Liebe.“
Das Recht auf Liebe
Der Mensch hat ein Recht darauf, wahrhaftig geliebt zu werden und ist verpflichtet, wirklich zu lieben. Jeder Mensch muss, um sein zu können, verändernd wirken. Er hat dabei aber im Gegensatz zu allem anderen Seienden, da er aufgrund seiner bio-psycho-sozialen Veranlagungen denken, sprechen und arbeiten kann, die Möglichkeit, eigenwillig handeln zu können und dabei Verantwortung zu übernehmen, auf dass es allen Menschen möglich werde, in liebevoller, natürlich und gesellschaftlich bedingter Geborgenheit ihr Leben zu gestalten.
Das Lebensgefühl wahrer Liebe und zornigen Aufbegehrens macht das Menschsein möglich, bringt die Menschen zu Verstand und lässt sie ihre Bestimmung zwischen Nehmen und Geben im Wirklichen erkennen.
Liberté, Liberté chérie, Combats avec tes défenseurs!
“Freiheit, geliebte Freiheit, Kämpfe mit deinen Verteidigern!”, heißt es in einer Strophe der Marseillaise, dem Lied der Französischen Revolution, das von Tausenden gesungen wurde, als sie sich gegen die Tyrannei erhoben, um sich von unerträglichen Lebensverhältnissen zu befreien. Sie hatten für sich aus dem Gefühl der „Liebe zur Freiheit“ heraus nicht nur das Recht in Anspruch genommen, die Gesellschaft zu verändern, sie sahen sich auch dazu verpflichtet.
Alles Sein kann sich jedoch nur aus Widersprüchen entwickelnd manifestieren. Liebe und Hass könnten singulär nicht wahrgenommen werden, verändern ist immer gleichzeitiges Erheben und Zerlegen.
Ob sich schließlich im bewussten Verändern, das sich Vergegenwärtigen des Angenehmen, also das Bewahren des Seins, oder dessen Vernichtung, also sein Beenden, durchsetzt, hängt vom vorhandenen Selbstbewusstsein der Handelnden ab. So brachte die große Französische Revolution neben der Proklamation der Menschenrechte und der Beseitigung der aristokratischen Herrschaft ungeheure Grausamkeiten hervor.
All You Need Is Love
Selbsterkenntnis, Eigenwilligkeit und das rechte Maß zu halten, sind Gebote menschlichen Suchens, ermöglichen uns selbstbewusst zu werden und motivieren uns zum Handeln.
Mit den Anfangstakten der Marseillaise beginnt der Beatles Song „All You Need Is Love“; Alles, was du brauchst, ist Liebe. Mit diesem Lied wurde sehr genau das Lebensgefühl der sogenannten „Love-Generation“ der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts skizziert. Die Beatles drückten in ihrer Musik die Sehnsucht der jungen Leute aus, Liebe geben und empfangen zu wollen.
Der herausragende Komponist und Dirigent Leonard Bernstein sagte nach dem gewaltsamen Tod John Lennons in einem Interview über ihn und die Beatles: „Lennon war eins von ganz wenigen Genies in unserer kulturell so leeren Zeit.”
Bernstein bekundete: “Die vier jungen Musiker aus Liverpool, die sich die Beatles nannten, waren die Höhepunkte: Sie sind und bleiben für mich der Maßstab. Durch meine Kinder habe ich sie und ihre Musik kennengelernt – heute kann ich mehr als 70 Beatles-Lieder auswendig singen.” Und er ergänzte: “John Lennons Kompositionen sind mit denen Rachmaninows oder Schuberts vergleichbar, obwohl Schubert natürlich – im Gegensatz zu Lennon – auch Sinfonien geschrieben hat.“
Weiter sagte Bernstein: „Ich weiß, es klingt wie Schwärmerei, aber die mädchenhafte, sirenenartige Stimme von Paul McCartney war für Lennon die ideale Ergänzung. Diese beiden bildeten ein Paar mit einer für diese Zeit ungewöhnlichen Kreativität. Ringo Starr war der fähige und freundliche Musiker, George Harrison das mystische, bescheidene Talent – John und Paul aber waren die Heiligen Johannes und Paulus.“
“Erkenne dich selbst”
„Give Peace a Chance“, ein Anti-Kriegs-Song aus der Feder von Lennon, singen in dem amerikanischen Film Blutige Erdbeeren, der die 1968er Studentenrevolte an der Columbia University von New York nachzeichnet, auf dem Fußboden kniende, den Takt mit den Händen dazu schlagende Studenten. Sie wollen so für die Beendigung des Krieges in Vietnam demonstrieren – die Menschen dort sollen endlich ihren Frieden haben. Die Nationalgarde der USA jagt sie brutal auseinander.
Der Film erzählt nach, was wirklich passiert war und wirft eine Frage auf. Warum handeln (nicht nur junge) Menschen so durch und durch eigenartig, dass häufig der eine den anderen nicht verstehen kann?
Denker aus der Anfangsperiode der Philosophie haben, wie Platon in einem Dialog sagen lässt, als Proben ihrer Weisheit Apollon, dem Gott der Weissagung, kurze Denksprüche gewidmet, die als Inschriften seinen Tempel in Delphi zierten, darunter: „Erkenne dich selbst“ und „Alles mit Maß.“
Diese und andere Weisheiten, die wir Menschen als Orientierungspunkte für die Gestaltung unseres Lebens nutzen können, sind also uralt und begleiten uns schon über Jahrtausende hinweg durch unser alltägliches Leben. „Wann wird man je verstehen, wann wird man je verstehen“, sang nicht unbegründet Marlene Dietrich in den 1960er Jahren.
Liebevolle Menschen, die sich Hippies nannten, fanden ihre Gefühle in den Songs der Beatles gespiegelt, aber auch der zerstörerische Charles Manson fühlte sich von ihnen inspiriert. Am 9. August 1969 ermordeten Gefolgsleute des Sektenführers in Los Angeles die Filmschauspielerin Sharon Tate, die schwangere Ehefrau des Regisseurs Roman Polanski, und vier ihrer Gäste grauenhaft.
Swinging Sixties
„San Francisco“ und „California“ waren in den Swinging Sixties Städtenamen mit magischer Anziehungskraft für viele amerikanische Jugendliche. Sie verabschiedeten sich von den Eltern, verließen die Colleges und die Arbeitsplätze, um im Land umherzuziehen und ein anspruchsloses Leben zu führen. Nicht einzeln, wie vormals in der Subkultur der Beatniks üblich, und nicht in kleinen Gruppen, wie die europäischen Gammler, sondern zu Tausenden und Zehntausenden.
Der Begriff Hippie (abgeleitet von to be hip – angesagt sein) tauchte erstmalig 1965 in einer Schlagzeile des „San Francisco Examiner“ auf. Hippies wurde zur Bezeichnung für eine jugendliche Protestbewegung, die sich schnell über Großbritannien und Westeuropa ausbreitete und somit internationale Züge trug.
Mit ihrem Äußeren und ihrem Lebensstil wollten die Hippies die US-amerikanische Wertordnung und das Gesellschaftssystem auf den Kopf stellen.
Blumenkinder
Sie gaben sich sanft, friedlich und gefühlsbetont, verbreiteten Fröhlichkeit und Optimismus und konnten sich an allem Schönen dieser Welt erfreuen – an Sonnenstrahlen, Tautropfen, Tieren, Musik und Tanz.
Die Jeans, die sie trugen, waren abgewetzt, verwaschen und mit Flicken besetzt. Die Kleidung insgesamt strahlte in den fröhlichsten Farben und wurde durch verschiedenste Elemente anderer Völker und Kulturkreise ergänzt – durch indianische Mokassins, Talismane und Amulette oder durch buddhistische Gebetsschnüre. Auch Schlafsack, Umhängebeutel, Gitarre oder Mundharmonika gehörten zur Ausrüstung.
Das Symbol der Hippies waren jedoch vor allem Blumen: Blumen in den langen Haaren, Blumenkränze um den Hals, Blumen in fantasievollen Formen auf den Kleidern – Blumen überall, wohin man sah.
Blumen setzten die Hippies gleich mit Leben und Liebe, weil Blumen nur sind und gegen niemanden etwas haben. Wegen dieses uneingeschränkten Bekenntnisses zu Blumen und Liebe nannten sich die Hippies auch „flower children“ und „Love Generation“ – gemäß ihrem Slogan „Make Love, Not War!“.
Amerika war für die Hippies zum computerisierten Polizeistaat heruntergekommen, wo FBI und CIA mit Hunderttausenden von elektronischen Ohren und Augen jede menschliche Regung kontrollierten. Protest und Auflehnung der Jugend gegen Überholtes und Verwerfliches – dabei nicht selten Altehrwürdiges ablehnend – war jedoch nicht neu.
“Es dauert mir zu lange …”
Aus Abscheu vor der Verkommenheit seiner Zeit, zwischen Sorge und Hoffnung sich selbst und seine Umgebung verbrauchend und bemängelnd, begehrt in Friedrich Schillers “Die Räuber” ein junger Mann auf, zerstört das herrschende Ordnungssystem und scheitert an dem Chaos, das er selbst herbeigeführt hat.
Franz von Moor nimmt sich in seiner Eitelkeit als von Bosheit umgebenen und von unbefriedigten Leidenschaften gemarterten Außenseiter.
Der alternder Vater stirbt dem Jüngling zu langsam, nachdenkend lässt ihn Schiller in seinem Zimmer erscheinen:
„Es dauert mir zu lange – der Doktor will, er sei im Umkehren – das Leben eines Alten ist doch eine Ewigkeit! Und nun wär frei, ebene Bahn bis auf diesen ärgerlichen zähen Klumpen Fleisch, der mir, gleich dem Unterirdischen Zauberhund in den Geistermärchen, den Weg zu meinen Schätzen verrammelt.
Müssen denn meine Entwürfe sich unter das eiserne Joch des Mechanismus beugen? – Soll sich mein hochfliegender Geist an den Schneckengang der Materie ketten lassen? – Ein Licht ausgeblasen, das ohnehin nur mit dem letzten Öltropfen noch wuchert mehr ist’s nicht.“
Die Diktatur falsch verstandener väterlicher Liebe peinigt hier die Eitelkeit eines sich überschätzenden Sohnes und motiviert zu raffinierter Grausamkeit.
„Und doch möcht ich das nicht gern selbst getan haben um der Leute willen. Ich möchte ihn nicht gern getötet, aber abgelebt“, grübelt Moor weiter nach und steigert sich dabei maßlos.
„Gichtriche Empfindungen werden jederzeit von einer Dissonanz der mechanischen Schwingungen begleitet – Leidenschaften mißhandeln die Lebenskraft – der überladene Geist drückt sein Gehäuse zu Boden – Wie denn nun? – Wer verstünde, dem Tod diesen ungebahnten Weg in das Schloß des Lebens zu ebnen! den Körper vom Geist aus zu verderben – ha! ein Orginalwerk! – wer das zustand brächte! – Ein Werk ohne gleichen! – Sinne nach Moor! – Das wär’ eine Kunst, dies verdiente dich zum Erfinder zu haben (…)“
Und Moor quält sein Hirn weiter:
„(…) welche Gattung von Empfindnissen ich werde wählen müssen? Welche wohl den Flor des Lebens am grimmigsten anfeinden? Zorn? – dieser heißhungrige Wolf frißt sich zu schnell satt – Sorge? – dieser Wurm nagt mir zu langsam – Gram? diese Natter schleicht mir zu träge – Furcht? die Hoffnung läßt sie nicht umgreifen – was? sind das all die Henker des Menschen? – Ist das Arsenal des Todes so bald erschöpft?“
Schließlich kommt der hasserfüllte junge Mann zum Schluss, indem er fragt:
„Was kann der Schreck nicht? – Was kann Vernunft, Religion wider dieses Giganten eiskalte Umarmung? Und doch? – Wenn er auch diesem Sturm stünde? – Wenn er? O so komme zu mir zu Hülfe Jammer, und du Reue, höllische Eumenide, grabende Schlange, die ihren Fraß wiederkäut und ihren eigenen Kot wiederfrisst; ewige Zerstörerinnen und ewige Schöpferinnen eures Giftes, und du, heulende Selbstverklagung, die du dein eigen Haus verwüstest, und deine eigene Mutter verwundest – Und kommt auch ihr mir zu Hülfe wohltätige Grazien selbst, sanftlächelnde Vergangenheit, und du mit dem überquellendem Füllhorn, blühende Zukunft, haltet ihm in euren Spiegeln die Freuden des Himmels vor, wenn euer fliehender Fuß seinen geizigen Armen entgleitet. So fall ich Streich auf Streich, Sturm auf Sturm dieses zerbrechliche Leben an, bis den Furientrupp zuletzt schließt – die Verzweiflung! Triumph!“
Dass sich das Menschsein zwischen Liebe und Zorn, Neugier und Trotz, Aufbegehren und Lethargie und immerzu zwischen „Sein und Nichtsein“ bewegt, offenbart sich also auch in Schillers Räubern oder auch in Shakespeares Hamlet. Die in innerer Unendlichkeit und äußerer Bedingtheit gegebene seelische Dynamik der Menschen, das Erstreben umfassender Befriedigung motiviert sie zum Denken und Handeln. Dabei müssen wir Menschen zwischen erhebendem Schöpfertum und zerstörerischer Triebhaftigkeit unseren Weg durchs Leben bahnen.
Body Count und Woodstock
Das Ende der 1960er Jahre, die Zeit der Hippies und der „Love Generation“, war eine Aufregende Zeit. So re chneten beispielsweise die Menschen an der Westküste der USA täglich mit einem Erdbeben, das Kalifornien vom übrigen Land abtrennen und im Meer versinken lassen würde.
Eine solche Katastrophe wäre, so glaubte man, eine gerechte Strafe für die korrupte Gesellschaft. Unzählige, vor allem junge Leute pendelten zwischen Untergangsstimmung und der Hoffnung auf eine weltweite Verbrüderung. während in Vietnam der verhasste Krieg wütete.
Die täglichen Fernsehberichte lieferten Horrorszenarien. Und die Leichen wurden gezählt: Wöchentlich erfuhr man, wie viele von „uns“ und wie viele von „ihnen“ auf dem Schlachtfeld gefallen waren – Body Count.
Das Jahr 1969 war voller spektakulärer Ereignisse. Am 20. Juli landeten amerikanische Astronauten auf dem Mond. Noch eine andere Meldung war in Kalifornien Tagesgespräch: Auf einer Farm, etwa 160 Kilometer nördlich von New York City, war vom 15. bis 17. August ein Konzert geplant: „The Woodstock Art and Musik Fair“.
Viele große Namen aus der Musikwelt würden dort auftreten: Jimi Hendrix, Janis Joplin, Arlo Guthrie, The Who und zahlreiche andere Künstler. Das Festival verkörperte fast bilderbuchhaft den Geist der Hippie-Kultur. Dennoch vertraten einige die Meinung, dass die Luft aus der idealistischen Flower-Power-Bewegung schon längst raus sei, weil immer mehr Hippies dem Drogenkonsum verfielen. Der Gitarist Jimi Hendrix, angeschlagen vom Drogenkonsum und psychisch gezeichnet von Depressionen, starb nicht lange nach Woodstock. Ein Cocktail aus Alkohol und Schlaftabletten führte ihn im September 1970 vom Diesseits ins Jenseits. Janis Joplin folgte ihm im Oktober des gleichen Jahres durch eine Überdosis Heroin.
Der Wandel vom echten Wir zum falschen Ich
In Woodstock, viele Besucher hatten den Heimweg schon angetreten, intonierte der geniale Jimi Hendrix die amerikanische Nationalhymne. Doch auf seiner Elektrogitarre klang das patriotische Lied merkwürdig bedrohlich – die schreienden, verzerrten Musikfetzen erinnerten an angreifende Flugzeuge und explodierende Bomben in Vietnam.
Zwischen Liebe und Zorn bewegten sich die Hippies, aber auch geschäftstüchtige Marketingstrategen. Während 400.000 zumeist naive Jugendliche auf dem Mammut-Festival feierten, zermarterte man sich anderswo die Köpfe, wie man die Bewegung finanziell nutzen könne.
Dynamische Geschäftsleute rechneten sich gute Chancen aus, schließlich belegten Statistiken, dass bis 1970 beinahe ein Drittel der US-Bevölkerung jünger als 25 Jahre sein würde.
Im Laufe der 1970er Jahre, so wurde prognostiziert, würde daher der Umsatz auf dem “Jugendmarkt” wahrscheinlich jährlich über 45 Milliarden US-Dollar betragen. Also wurden die Trommeln der Werbung geschlagen. Im Fieber des Konsums wandelte sich die „Wir-Generation“ der 1960er Jahre zur „Ich-Generation“.
Bereits kurz nach dieser Transformation, in den 1980er Jahren, fanden sich in den USA kaum noch Spuren der „Woodstock-Generation“. Die Blumenkinder waren untergetaucht, hatten geheiratet und Kinder bekommen, denen sie ihre eigenen Jugendsünden verschwiegen. Die rebellischen Hippies von einst machten lieber Karriere im ehemals verachteten System und wurden zu angepassten Mitgliedern des Establishments.
Frieden, Umwelt, Gleichberechtigung
Es gab dennoch eine Menge positiver Entwicklungen, die ohne diese Generation nicht in Gang gekommen wären.
Die Friedensbewegung ist ein Beispiel: Sie beeinflusste zumindest zeitweilig die Politik Europas und der USA. Und ihr war es zu verdanken, dass die Länder des globalen Nordens nach Vietnam vorsichtiger wurden, wenn es darum ging, ihr Militär in Krisengebiete zu schicken oder dort zu stationieren.
Die pazifistische Bewegung hatte sicherlich auch einen Anteil daran, dass es zwischen Ost und West zur atomaren Abrüstung und letztlich zum Zusammenbruch des Staatssozialismus in Osteuropa kam. So gesehen lieferte das Jahr 1969 also die Grundlage für das historische Ereignis 1989.
Auch die Umweltbewegung hat ihre Verdienste. Ihre Geburtsstunde schlug im Januar 1969, als sich wegen einer leckgeschlagenen Bohrinsel an der Küste vor Santa Barbara ein riesiger Öl-Teppich ausbreitete. Bald protestierten Tausende gegen die Ölindustrie, wodurch erstmals in Nordamerika und in Europa der Begriff Ökologie zum Schlagwort wurde.
Und dann ist da noch das große Thema der Gleichberechtigung: Die Frauenbewegung sowie die Rechte von Minderheiten wurden aus dem Idealismus der 1960er Jahre heraus deutlich stärker als bis dahin üblich beachtet. Dieses (neue) Bewusstsein führte in der gesamten westlichen Welt zu gesellschaftlichen Veränderungen.
Die Hässlichkeit
Die sowohl aus dem Überlebenswillen der einzelnen Menschen, als auch aus den Notwendigkeiten der Arterhaltung entspringende egozentrische Sichtweise im Ausnutzen der Naturgesetze zur individuellen Selbstbefriedigung verursacht heute die Verwüstung vieler Regionen der Erde.
Die Hässlichkeit so mancher menschlichen Unternehmung und Tat kann durchaus vergessen machen, dass eigentlich die Tatsache, dass jeder Mensch geliebt werden und Liebe geben will, sein menschliches Wesen und Wirken bestimmt, dass die Menschen aus ihrer Liebe zum Leben heraus zu Schöpfertum bei der Gestaltung ihres endlichen Lebens motiviert sind, sie sich so überhaupt erst als menschliche Wesen aus dem Tierreich erheben konnten und so auch nur als solche weiter existieren können.
Nicht selten führten und führen sehnsüchtig oder ängstlich, aus Unwissenheit oder Verblendung heraus, einseitig angestellte Betrachtungen und Bewertungen zu – später und im Nachhinein gesehen – schier unglaublichen Vermutungen und daraus resultierendem Irrglauben und eben solchem unglaublichen Tätigsein der Menschen.
Die gegenwärtige Weltgesellschaft tritt immer mehr zusammengenötigt zu manipulierten Interessengruppen in Erscheinung, einerseits nach egoistisch–wollüstigem Vergnügen suchend beziehungsweise andererseits nach Vernichtung und Zerstörung von Hab und Gut sowie des Lebens andersartiger strebend.
Besonders gefährlich wird diese Entwicklung dadurch, dass den Menschen heute in wahnsinnigen Größenordnungen Massenvernichtungswaffen zur Verfügung stehen beziehungsweise, dass einzelne in der Lage sind, mit geringem Aufwand Errungenschaften des wissenschaftlich–technischen Fortschritts zur Vernichtung anderer, oft auch in Verblendung selbstmörderisch, benutzen können.
Sprint in den Stillstand
Die ungeheure Dynamik im Prozess des Wettlaufs der Menschen mit sich selbst verursacht das Abreißen der Traditionen innerhalb historisch gewachsener Gemeinwesen – und immer aggressivere Auseinandersetzungen zwischen altehrwürdigen, oftmals sehr unterschiedlichen Gestaltungsweisen des gesellschaftlichen Zusammenlebens.
Die Schere zwischen den überwiegend am Erhalten des Bestehenden interessierten älteren Generationen und den jüngeren, die eher zu Umwälzungen bereit sind, öffnet sich immer weiter. Gleichzeitig wird Hass zwischen Angehörigen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen geschürt, die verschiedensten Traditionslinien stehen sich mehr und mehr konträr und feindselig gegenüber.
Immer schneller werden immer mehr Informationen und Standpunkte aneinander vorbei kommuniziert. Zuhören wird zur verblassenden Kunst.
Die reflexartige Gegenrede triumphiert im digitalen Nichts angeblich sozialer Netzwerke, diesen Orten der Anonymität, an denen sich niemand begegnen kann. Das Finden von Lösungsansätzen für übergeordnete Problemstellungen wird verunmöglicht – es ist der Sprint in den Stillstand.
Die ständig zunehmende und sich alltäglich über die Menschen ergießende Informationsflut, führt zu zunehmender Indoktrination und geistiger Abhängigkeit auf der Suche nach Sinn. Gleichzeitig erwächst eine Kultur der Skepsis, die sich den Gedanken bemächtigt, alles infrage stellt, am Ende sogar die Realität der eigene Existenz. Das Subjekt fühlt sich den sich verselbstständigenden gesellschaftlichen Gewalten immer hilfloser ausgesetzt, zieht sich ins Private zurück und verfällt mehr und mehr in untertänige und unmoralische Lethargie.
Neugier, Spieltrieb und lustbetontes Verlangen
Worin liegen aber nun die zum Überleben notwendigen Werte des menschlichen Verhaltens?
Die Menschen erwerben Wissen und Fähigkeiten, wodurch sie ihr Leben über natürlich gegebene Grenzen hinaus verlängern und es sinn- und freudvoll gestalten können. Durch menschliches Wirken kann der Lebensraum Erde und selbst der Kosmos als solcher zum Nutzen der Menschheit erschlossen und vielleicht auch bewahrt werden vor dem Naturgesetz des unausweichlichen Untergangs: Allem Leben folgt der Tod.
Neugier, Spieltrieb und lustbetontes Verlangen sind urwüchsige Motivationen der Menschen zum Handeln, so erlangen sie ihr Selbstbewusstsein.
Zunächst werden ihnen Angst, Hunger und Hilflosigkeit bewusst, daraus erwachsen oft Hass, Gier und Gewalttätigkeit aber auch Sehnsucht, Appetit und Hilfsbereitschaft. Überwiegend sind es die Lebensumstände, die maßgeblich die gefühlsmäßigen Befindlichkeiten der Menschen bestimmen. Selbstzerstörerisches Gegeneinander im Kampf ums Überleben kann, historisch und gegenwärtig nachweisbar, durch bewusstes Anwenden erworbener Erkenntnisse und Befähigung in behagliches Für- und Miteinander im konstruktiven Wettbewerb um nutz- und gewinnbringende Leistungen geleitet werden.
Im Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einem natürlichen Weltganzen, können die Menschen Notwendigkeiten und Möglichkeiten der Veränderung beziehungsweise der Bewahrung ihrer Anatomie und Physiologie erkennen und sie bewirken. Doch wo bleiben Psyche und Geist in einer Phase gedanklicher Isolation?
Nur Konflikte, das Ringen um Positionen und die Akzeptanz der besseren Argumente im Dialog, führen überwiegend zu nützlichen Veränderungen im gesellschaftlichen Leben. Über die gemeinschaftliche Suche nach Wahrhaftigkeit und Nützlichkeit – und den so gewonnenen Informationen – gelangen die Menschen zu Sittlichkeit und Zufriedenheit, zu bewusst bewirkender Menschlichkeit.
Technologisches, wissenschaftliches und künstlerisches Wissen und Können ermöglichen es, die Welt immer besser zu begreifen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und die Wirklichkeit zu bewahren. Und dies führt eben nicht zur Produktion von Massenvernichtungswaffen und zur gemeinschaftlichen oder individuellen Selbstzerstörung, sondern zur Erkenntnis, alles Destruktive zu unterlassen, es zu vermeiden, es abzuschaffen.
Darin sind die Lebenserfahrungen von uns allen gebündelt. Und jedem von uns steht es dennoch frei, sich für bewahrendes oder zerstörerisches Handeln zu entscheiden.
Illustration: Neue Debatte
Frank Nöthlich (Jahrgang 1951) wurde in Neustadt/Orla (Thüringen) geboren. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und sechs Enkelkinder. Er studierte Biologie, Chemie, Pädagogik, Psychologie und Philosophie von 1970 bis 1974 in Mühlhausen. Nach dem Studium war er an verschiedenen Bildungseinrichtungen als Lehrer tätig. Von 1985 bis 1990 war er Sekretär der URANIA-Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse. Später arbeitete er als Pharmaberater und ist heute Rentner und Buchautor (www.briefe-zum-mensch-sein.de). Er sagt von sich selbst, dass er als Suchender 1991 in der Weltbruderkette der Freimaurer einen Hort gemeinsamen Suchens nach Menschenliebe und brüderlicher Harmonie gefunden hat.