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Meinung

Ausblendung von Krieg: Die Philosophie der Verdauung

Ein zukunftsweisender Pakt mit denen, die produzieren, hat sich zu einer reaktionären Forderung nach industrieller und technologischer Enthaltung gemausert.

Es ist ja nicht so, dass es nicht genügend Themen gäbe, die dazu einlüden, sich damit auseinanderzusetzen und zu einer Haltung zu kommen.

Manöver, Krieg und Viren

Da hat ein neuer Virus die Welt ergriffen und die einzelnen Länder gehen sehr unterschiedlich damit um. Da hat die Türkei einen Krieg begonnen beziehungsweise sich in einen Krieg hineinbegeben und fragt nach Unterstützung und droht seinen Partnern aus dem militärischen Bündnis NATO, wenn sie nicht unterstützt würde, dann ließe sie die Menschen, die sich aus dem Krieg geflüchtet haben, alle nach Europa ziehen. Da mobilisiert die NATO ihrerseits zu dem größten Manöver seit dem Kalten Krieg – und zwar unter dem Namen Defender, direkt an der russischen Grenze.

Es geht um brisante Politik und es geht, in allen Fällen, auch wenn man sich den dramatischen Rückgang der Emissionen in China aufgrund der staatlichen Strategie, den Virus in den Griff zu bekommen, ansieht, um Auswirkungen auf das Klima. Stilllegung von Produktion ist ein signifikanter Segen für das Klima und Kriege und Manöver sind potenzierte Emissionsveranstaltungen.

Es fällt auf, dass weder die Protagonisten der Fridays for Future-Bewegung sich bis dato zu diesen Themen geäußert haben, noch dass die diese Bewegung anfänglich hypende Medienwelt sich die Mühe gemacht hat, herauszufinden, was dort über die Weltgeschehnisse gedacht wird. So, wie es aussieht, hat auch niemand aus dieser Bewegung vor, sich zu den Themen zu äußern. Das ist nicht nur bedauerlich, es ist nahezu beschämend. Der frische, juvenile Heroismus, der anfangs dieser Bewegung angeheftet wurde, scheint sich als eine weitere Marketingstrategie zu entpuppen. Und komme niemand mit der Phrase, es handele sich um junge Menschen und man könne nicht gleich eine allumfassende politische Strategie verlangen!

Sektierertum und Esoterik

Während sich die Welt durch die Auflösung bestehender Ordnungen an vielen Stellen an diesem Verlust abarbeitet, während Diktaturen entstehen, Handelskriege, heiße Kriege und kalte Kriege geführt werden, während es überall darum geht, die eigenen Interessen zu analysieren und abzugleichen mit der über allem schwebenden Theorie des freien Marktes und den Verheerungen, die der Liberalismus seiner Entfesselung verursacht hat, sind die Ergebnisse der Fridays for Future-Bewegung einmal damit abzugleichen.

Wie immer, wenn es um Sektierertum und Esoterik geht, gehört man in Deutschland schnell zur Avantgarde. Die Forderung, Natur und Ökologie nicht zu zerstören, hat vor allem dazu geführt, dass sich eine zunehmend breite Front gegen jede Form industrieller Produktion gebildet hat. Das, was in die Zukunft wiese, ein Pakt mit denen, die produzieren, hat sich gemausert zu einer schlicht reaktionären Forderung nach industrieller und technologischer Enthaltung.

Wenn es nach den Apologeten der schönen alten Welt ginge, würden die archaischen Produktionsweisen zurückkehren und schön, trügerisch, im Einklang mit der Natur die alte Welt neu erglänzen lassen. Man höre genau zu: Industrie ist unappetitlich, Manufaktur wird als Wert an sich gefeiert.

Triviale Debatten im Angesicht von Krieg

Das, was übrig geblieben ist von dem, was euphorisch als neuer Aufbruch gefeiert wurde, ist das Ausblenden der tatsächlichen Verursachung ökologischer und existenzieller Bedrohung durch Kriege. Was stattdessen stattfindet, ist ein bis zur Hysterie geführter Meinungskampf um ökologisch kompatible Ernährungsweisen.

Da sind sie alle dabei, und wahrscheinlich wird in keinem Land darüber leidenschaftlicher diskutiert als in Deutschland. Die Bewegung hatte Zeit, sich zu größeren Zusammenhängen zu äußern. Sie hat den Zeitpunkt dafür verpasst. Wenn Kriege vor der Tür stehen, erscheinen Debatten über die Ernährung recht trivial. Willkommen in der neuen Ära der Verdauungsphilosophie!


Unabhängige Medien aufbauen. Neue Debatte


Illustration: Neue Debatte

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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