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Spiegel der Gesellschaft: Ist es der Fußball?

Fußball bildete als Massenphänomen von Anfang an vieles ab, was sich in der Gesellschaft tat.

Seitdem die Sportart, die zunächst vorzugsweise von der britischen Upperclass praktiziert worden war, durch die proletarischen Massen erobert wurde, hat sie sich zu einem Gradmesser vieler gesellschaftlicher Faktoren entwickelt: Fußball bildete als Massenphänomen von Anfang an vieles ab, was sich in der Gesellschaft tat.

Der Wandel des Spiels

Und immer, wenn sich etwas Dramatisches in und um den Fußball abspielte, gab es eine geteilte Reaktion darauf. Eine Seite der Betrachtung ging davon aus, es hinge an den brachialen, unzivilisierten Sitten des Spieles, die andere Auffassung interpretierte den Fußball als Spiegel der Gesellschaft. Letzteres ist, so zumindest meine Überzeugung, nie von der Hand zu weisen gewesen.

Allein eine Revue der Spielweisen sollte genügen, um sich ein Bild davon zu machen, warum der Fußball immer faszinierte. Denn er bildete die verschiedenen Arten der Produktion nahezu 1 zu 1 ab.

Es begann mit der taylorisierten Arbeit, der strikten Arbeitsteilung nach festen, unverrückbaren Rollen für die einzelnen Spieler. Ein Verteidiger war ein Verteidiger und ein Stürmer ein Stürmer. Punkt. Es ging weiter zu flexibleren Schemen, bei denen sich irgendwann die großen Regisseure etablierten. Da kam es auf Genius und Inspiration an. Und abgelöst wurde das durch Teams von Alleskönnern, die jede Funktion ausfüllen können sollen und während eines Spiels, sprich Prozesses, das System, das heißt, die Taktik, mehrmals ändern können. Das ist das, was die verschiedenen Generationen in ihren Arbeitsprozessen erlebt haben und es ist das, was der Fußball wiedergibt.

In die Knochen

Allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen sind ebenso zu verzeichnen. Die ehemals maskuline Domäne ist längst dahin, nachdem die Frauen nach der Jahrtausendwende die Bastionen gestürmt haben. Sie trugen in hohem Maße zu einer Zivilisierung der Umgangsformen in den Stadien bei.

“Da ist der Ball rund, wichtig ist auf dem Platz, der nächste Gegner ist immer der schwerste …”
Aber auch die Schattenseiten haben ihren Platz. Mit der sukzessiven Verdrängung des einstigen maskulinen Heroismus machte sich allerdings, auch das ist gesellschaftlich parallel nachzuvollziehen, eine Theatralik breit, die bitte nicht dem weiblichen Geschlecht zugeschrieben werden soll. Da wird simuliert, da werden Wehwehchen vorgetäuscht, da werden Gegenspieler beschuldigt und verpetzt.

Wer wissen will, wie das einmal war, sehe sich das Finale der Champions League zwischen Borussia Dortmund und Juventus Turin aus den 1990er Jahren in voller Länge an. Da schenkten sich beide Seiten nichts, da ging es hart zur Sache. Nach heutigen Kriterien des divenhaften Melodrams hätten zum Spielende maximal fünf Spieler noch auf dem Platz gestanden. Beschwert hat sich damals niemand. Man schüttelte sich die Hände und ging nach Hause.

Sprache und Bilder

Und wie viele Begriffe aus dem Fußball haben sich als Kollektivsymbole in den gesellschaftlichen Diskurs eingeschlichen? Da ist der Ball rund, wichtig ist auf dem Platz, der nächste Gegner ist immer der schwerste und gegebenenfalls sollte man den Ball flach halten oder auch mal vom Punkt aus abziehen. Sprache akzeptiert Bilder nur, wenn sie eine allgemeine Relevanz erzielen.

Das Vokabular, das sich aktuell wieder in den Vordergrund gedrängt hat, zeugt von einem barbarischen Klassenkampf: Idioten, Chaoten, Ultras, Barackler, XXX verrecke!; Hurensöhne.

“Was der Fußball sichtbar macht, sind die gesellschaftlichen Entwicklungen und Verhältnisse.”
Wobei wir an dem Punkt sind, der jetzt den Fußball wieder in die Schlagzeilen bringt. Auch das ist interessant: Da wehren sich die Ultras nicht gegen Kapitalisten, wie sie in der Branche auch unterwegs sind, und die osteuropäische Wanderarbeiter für Hungerlöhne Schweine zersägen lassen oder gegen die Glückspilze, die durch das Plagiat eines Koffeingetränks aus Südostasien ein Vermögen gemacht haben, sondern gegen einen, der durch Wissenschaft und Erkenntnis ein neues Produkt entwickelt hat, das Produktion und Arbeit unterstützt. Zudem gehört er in diesen Breitengraden zu den seltenen Exemplaren, die aus ihrem unermesslichen Reichtum vieles in die Gesellschaft zurückfließen lassen.

Aber, auch das ist eine traurige gesellschaftliche Wahrheit, der Smarte, der Zivilisierte, wird besonders gehasst. Nicht umsonst pöbelten die dilettantischen Kaufleute, die nur gut im Abkochen und im Arisieren waren, gegen die jüdischen Viehhändler, die nicht nur etwas vom Geschäft verstanden, sondern auch noch menschliche Züge trugen.

Das Spiel als Signatur der Gesellschaft

Spielweise. Umgangskultur. Zudem haben sich die Besitzverhältnisse dramatisch wie im richtigen Leben geändert. Hier und da ist die Börse eingezogen und in Großbritannien gehören die einstigen Vereine russischen Oligarchen oder arabischen Petromilliardären. Und Paris Saint-Germain, übernommen durch ein Konsortium aus Katar, überwies für einen Spieler das Äquivalent eines Airbus.

Der Fußball selbst – ein eher harmloses Spiel. Das, was es jedoch sichtbar macht, sind die gesellschaftlichen Entwicklungen und Verhältnisse. Alles, was sich dort abspielt, ist auch sonst vorhanden. Das, was derzeit die hässliche Seite des Fußballs genannt wird, ist auch die Seite der Gesellschaft, die wir außerhalb der Stadien, im sogenannten „richtigen“ Leben, jeden Tag erleben. Der Fußball, das ist eine Signatur der Gesellschaft.

Leseempfehlung

Für die Proletarisierung des Fußballs!

Noah Krügl ist Autor von „Unsere Zeitung“, begeisterter Fußballfan und Gründungsmitglied einer linken Ultragruppierung in Österreich. Er skizziert in einer sechsteiligen Serie den kometenhaften Aufstieg und die dunklen Seiten der beliebtesten Monarchie der Welt: Fußball!


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Illustration: Neue Debatte

Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Eine Antwort auf „Spiegel der Gesellschaft: Ist es der Fußball?“

eines vergessen:
fussball + SUFF (alkohol in jeder form und menge), und neuerdings auch viele andere drogen gehören dazu …

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