Alles, aber auch alles, was die Sportreporter der Börsengeschehens den gemeinen Bürgerinnen und Bürgern als große Chancen der Partizipation immer wieder erzählen, hat sich in den letzten zehn Tagen als Schimäre erwiesen. Wer dem Rat der schicken Parkettmiezen oder den Vorschlägen eines BlackRock gefolgt ist, hat vielleicht, niemandem ist es zu wünschen, die eigene Altersvorsorge in den Sand gesetzt.
Wer glaubte, durch den Besitz von Aktien eine gewisse Sicherheit für die eigene, bescheidene Lebensplanung herzustellen, sieht sich nun bitter enttäuscht – und vielleicht nicht nur das, sondern auch ruiniert.
Nicht, dass der Erwerb von Aktien etwas Frevelhaftes wäre, nein manchmal ist es klüger, bei der Investition in kluge Technologien, Produkte und Dienstleistungen zu investieren, als das eigene, mit Mühen erwirtschaftete Geld den Banken für ihre Geschäftsfelder blanko zu überlassen. Nur, und diese Warnung geht nicht an die Leute, für die ein Geldschein nichts weiter ist als ein Zigarettenanzünder, sondern an diejenigen, für die durch geregelte, unaufhörliche und anstrengende Arbeit die Sicherung des eigenen Lebens auf dem Spiel steht, für diejenigen muss es heißen: die Börse ist der falsche Ort, um die durch eigene Arbeit erwirtschaftete Existenz in Sicherheit zu bringen.
André Kostolany und die vor dem Nichts stehen
Wertschöpfung ist substanziell, Börsenwerte sind in hohem Maße virtuell. Es ist zu hoffen, dass bei den nächsten Runden der politischen Auseinandersetzung die Vision vom Tisch ist, die bereits in Frankreich seit Wochen die Menschen massenweise auf die Straße treibt, nämlich die Verwandlung des staatlichen Rentensystems in ein börsennotiertes Investitionsmonstrum.
Es mögen diejenigen Zeugnis ablegen, die jetzt vor dem Nichts stehen und die, aufgrund ihres Alters, nicht mehr die eventuelle Erholung der Aktienwerte von der momentanen Baisse erleben werden.
Einer aus dem inneren Kreis, der sich dadurch einen gutes Ruf erwarb, weil er nicht das heute im Neoliberalismus geflügelte Wort von den Segnungen der Börse unreflektiert zum Besten gab, sondern immer wieder an den ursprünglichen Sinn dieser Institution erinnerte, in dem er auf Zeit und tatsächliche vorhandene Werte verwies, war der aus Ungarn stammende US-Bürger André Kostolany. Er gehörte zu den Wenigen der Branche, die ausdrücklich davor warnten, sich an die Börse zu begeben, wenn es um die Füllung des eigenen Kühlschranks ging:
„Wer viel Geld hat, kann spekulieren; wer wenig Geld hat, darf nicht spekulieren; wer kein Geld hat, muß spekulieren. Wenn alle Spieler auf eine angeblich todsichere Sache spekulieren, geht es fast immer schief.“
Es mutet schon verwegen an, in Zeiten der kollektiven Sinnentleerung noch einmal darauf zu verweisen, dass gehandelte Beteiligungen, die aus einer soliden Wertschöpfung stammen, eine gute Idee sind, dass derartige Werte aber auch, genauso wie die fiktiven, virtuellen, von dem wuchtigen Hammer der Rezession zerstört werden können. Das ist Teil der Anomie, die dem Kapitalismus innewohnt, von der er einerseits lebt, die jedoch immer wieder Protagonisten, und seien sie noch so klug und erfolgreich, zum Tode verurteilt.
Was ist nachhaltiger als der Tod?
Die Vernichtung von Werten gehört der gleichen Gesetzmäßigkeit an wie deren Schaffung. Einerseits werden Produktivkräfte freigesetzt, die das menschliche Vorstellungsvermögen sehr oft übersteigen, andererseits werden Vernichtungspotentiale mobilisiert, die eine traumatisch verunstaltete Welt hinterlassen. Wenn da keine Legislative, keine Judikative und keine Exekutive intervenieren, dann herrscht dort immer High Noon, in dessen Folge volle Geldsäcke mit Leichen aufgewogen werden.
Es ist, behalten wir uns auf jeden Fall unseren Humor, schon eigentümlich, dass in Zeiten, in denen kein Satz ohne den Terminus der Nachhaltigkeit verwendet zu haben enden darf, meistens der Verweis auf die Börse unterbleibt. Und das macht Sinn! Was, liebe Freunde, ist nachhaltiger als die Börse? Nur der Tod.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.