Keine Situation ist besser geeignet, in sehr kurzer Zeit sehr viel zu lernen, als die Krise. Von den strukturellen Fragen war schon die Rede.
Es konnte festgestellt werden, dass der Verzicht von Autonomie wegen ökonomisch rentabler Lieferketten ebenso fatal ist wie börsenorientierte Kapitalgesellschaften, denen Versicherungssysteme anvertraut werden.
Und es war sehr schnell deutlich, welche Auswirkungen die Umwandlung des Gesundheitswesens in vereinzelte Wirtschaftsbetriebe hat. Dass der Zweck aus den Augen verloren wird, die Patienten leiden und zahlenorientierte Abkömmlinge aus Wirtschaftsberatungsgesellschaften über ein so hohes Gut wie die Gesundheit entscheiden.
Seehofer hieß übrigens der Gesundheitsminister, unter dessen Verantwortung diese Entwicklung eine entscheidende Phase durchlief und in der niedergelassene Ärzte, die den hippokratischen Eid ernst nahmen, en bloc in Haftung genommen wurden.
Die Philosophie des Zasters
Neben den strukturellen Fragen, die im Moment recht schnell geklärt werden können, – ob das zu den notwendigen politischen Entscheidungen führen wird, liegt an uns allen und wird sich zeigen – sind es die mentalen Erscheinungen, die zeigen, was in der Epoche der reinen Zasterphilosophie so alles an Empathie verloren gegangen ist.
Da stehen nun die diejenigen, die für das Wirtschaftssystem, das die Ära geprägt hat – und das nicht die Pandemie, aber die aus ihr hervorgehende Krise in einem gehörigen Maß zu verantwortet –, in menschenleeren Sälen vor den Mikrofonen und appellieren an die Vernunft der Bevölkerung.
Richtig, vernünftiges Handeln ist jetzt notwendig. Und die Dringlichkeit dieses Notwendigen resultiert aus dem unvernünftigen Agieren von zwei Jahrzehnten. Solange das nicht zur Disposition steht, solange niemand aus der Kohorte der Verantwortlichen Worte über die eigene, fehlerhafte Agenda fallen lässt, darf sich niemand wundern, wenn es rumort. Und es wird weiter rumoren, denn je länger die verordnete Ruhe mit der ihr innewohnenden gesellschaftlichen Situation herrscht, desto kritischer wird es in sozialer Hinsicht.
Die Verkennung der Realitäten
Dass da ein gehöriges Maß an Verblendung herrscht, wird an der Kritik an dem Verhalten derer deutlich, die sich noch im öffentlichen Raum getroffen haben. Es sei empfohlen, wenn es nicht durch die Einschränkung der Bewegungsfreiheit gefährlich werden könnte, einmal durch die verschiedenen Quartiere einer Großstadt zu flanieren. Da wird dann sehr schnell deutlich, wo die „Unvernünftigen“ und wo die „Vernünftigen“ beheimatet sind.
In den Vierteln der Unterschichten ist das Treiben im öffentlichen Raum wesentlich stärker ausgeprägt, weil dort weder private Gärten noch großräumige Wohnungen vorhanden sind.
Um der argumentativen Entgleisung der berufsmäßig politisch Korrekten, die exklusiv wohnen, womöglich aus kaum versteuertem Erbgut, und die sich herzzerreißend gegen die Käfighaltung von Legehennen wehren, einmal einen Vorschlag zu machen: Zieht in die Quartiere der Unterschichten und tauscht die Behausung mit jenen, die sich dort auf der Straße herumtreiben. Dann wird zu beobachten sein, wie lange sie es aushalten in den Unterkünften der Armut und Beschränkung.
Die soziale Frage
Es fällt auf, dass die chronische Ausblendung der sozialen Frage, so wie es in der Epoche des Wirtschaftsliberalismus immer und immer wieder praktiziert wurde, die Spaltung der Gesellschaft immer weiter vorangetrieben hat. Das muss sich nun ändern.
Es darf keine Tabus mehr geben. Die Verhältnisse, wie wir sie momentan erleben, haben dazu geführt, dass der Park gegen die Straße pöbelt und es kaum jemand noch merkt. Diese Pöbelei ist das Unappetitliche!
Wer einen leeren Magen hat, und stellen sie sich vor, davon gibt es eine große Menge, der hat keinen Appetit auf Diskurse über sublime Gewürzmischungen, sondern dem geht es um ein Stück Brot. Was die Krise zeigt? Unsere Gesellschaft hat kannibalistische Züge, und kaum jemand, selbst die gebildeten Schichten, merken es noch. Das Wasser in den Kesseln fault beträchtlich.
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Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „In der Krise: Wir liegen vor Madagaskar!“
Hervorragender Artikel, wie immer, lieber Gerhard Mersmann. Mein Denken entspricht dem, was Du immer wieder beschreibst. Nur, ich finde nicht so die Worte, um das so zu beschreiben.
Zitat:
„Unsere Gesellschaft hat kannibalistische Züge, und kaum jemand, selbst die gebildeten Schichten, merken es noch.“
Vor wenigen Tagen sprach ich mit einer Angestellten einer großen Supermarktkette (kein Discounter!). Sie berichtete davon, dass es gerade die „Gebildeten“ sind, die hamstern und sich echauffieren, wenn bestimmte Waren kurzfristig nicht mehr im Angebot sind. Und diese Szenarien passieren mehrfach, täglich. Angst und Panik lassen anscheinend sehr schnell die Etikette vergessen, mit der die Menschlichkeit zugekleistert wurde. Kaum auszudenken, wenn es wirklich Hunger geben sollte.