Und die Krise bleibt ein gut geeignetes Labor! Alle Aspekte des Lebens erscheinen in ihr in einem neuen Licht, und alles gewinnt zum Teil auch neue Bedeutung.
Schöne neue Welt
Plötzlich haben wir es da mit Mandatsträgern zu tun, die sich exklusiv auf die Wissenschaft berufen. Was vor einigen Monaten, in Bezug auf die Ökologie, undenkbar war, ist bei den Funktionsträgern plötzlich Common Sense. Das ist bemerkenswert, auch wenn es nicht die Frage verdrängen darf, ob die Bezugnahme exklusiv auf die Wissenschaft, um Politik zu gestalten, in eine diktatorische und totalitäre Welt führen kann.
Nicht alles, was wissenschaftlich erwiesen scheint, eignet sich, um die sozialen Beziehungen von Menschen zu regeln, und schon gar nicht von einem wie auch immer gearteten Staat. Aber das nur am Rande.
Das Verwertungsprinzip der schnellen Mode macht auch in der Krise nicht Halt. Das, was uns aus Italien an Bildern und Tönen erreichte, wenn die Menschen sich abends aus den Fenstern und von den Balkonen darauf verständigten, ein Viva Italia oder Bella Ciao zu schmettern, und was, seien wir ehrlich, an Authentizität nichts zu wünschen übrig ließ, wurde in Germanistan prompt kopiert und endete in breitflächig organisiertem Absingen von An die Freude.
An die Freunde
Wenn man den Unterschied von Nationen kennenlernen wollte, dann war das ein wunderbares Beispiel. Jenseits der Alpen Vitalität und Spontaneität, diesseits der Alpen Technik und Organisation. Was, um in Germanistan zu bleiben, nicht harmoniert mit dem tiefen Bedürfnis nach Mythos und Pathos. Und vielleicht müssen wir daran gehörig arbeiten, sonst wird das alles nichts mehr.
Just in dem Augenblick, in dem die Politik vermittels der Wissenschaft an die Vernunft appelliert, gleiten die intellektuellen Eliten in das Pathos ab und sie überbieten sich dabei, ihr eigenes Wohlverhalten zu exponieren.
Von Bannern auf den Balkons bis zu solchen in den sozialen Netzwerken wird hervorgehoben, dass man sich selbst an die Maßgaben des staatlichen Krisenmanagements hält und verurteilt all jene, die das nicht tun. Fast scheint es so, als fühlten sich manche besser, wenn sie sich abheben von den Delinquenten, die typisch für eine Massengesellschaft sind. Ihnen sei geraten, das Selbstverständliche zu tun, solange es erforderlich ist, und ansonsten sich sinnvoll zu beschäftigen und sich in keinen Orgien der moralischen Erhebung gegenüber anderen zu ergießen, deren soziales Schicksal in der Regel härter ist als das ihre.
Der Ausnahmezustand
Was, jenseits dieses psychologischen Feldes, auffällt, ist, dass man in Germanistan geübt ist in Sachen staatlicher Ausnahmezustände. Da hatten viele gedacht, mehr als siebzig Jahre nach dem großen Krieg und mehr als dreißig Jahre nach der Vereinigung, habe sich hier die westliche Massendemokratie etabliert; da kommt eine pandemische Krise und wie auf einen Pfiff folgen alle den staatlichen Instruktionen.
Das ist ein momentaner, taktischer Vorteil beim Kampf gegen das Virus, kann aber zu einem politischen Fiasko werden, wenn man sich die Tendenz zum längst überwunden geglaubten Blockwartwesen ansieht.
Irgendwie scheint alles vergeblich gewesen zu sein, was die Geschichte seit den Irrungen der Diktatur an Chancen zur Verfügung gestellt hat. Fast möchte man rufen: Bitte besinnt Euch! Ihr seit doch nicht auf den Kopf gefallen! Und hört nicht auf jeden Scharlatan! Wenn Ihr es schon braucht, und abends von den Balkons auch singen wollt, dann doch nicht ‘An die Freude’! Dann wählt wenigstens den Gefangenenchor von Nabucco! Das ist Pathos pur und in dem steckt schließlich die Sehnsucht nach Überwindung. Und genau das ist es, was wir jetzt alle brauchen. Dringlicher denn je!
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Terrazza Corona – Überlegungen für die Zeit nach der Krise
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.