Wer kennt sie nicht? Immer unterwegs, in gediegenen Limousinen oder voluminösen SUVs, im Flieger mit Senator-Status oder in der Bahn mit der schwarzen Mamba: die Vielreisenden, die von einem Meeting zum nächsten hetzen, die eine Konferenz nach der anderen besuchen und mit Smalltalk und kurzen Statements am Leben, das heißt, im Geschäft bleiben?
Mobilität
Irgendwie haben sie sich darauf eingerichtet, die Anzahl der Kilometer, die sie hinter sich lassen, die Sterne der Hotels, in denen sie nächtigen oder die Sprechminuten auf den Events, die sie abspulen, als Zeichen ihrer eigenen Bedeutung zu werten. Unterschätzen wir es nicht. Neben der tatsächlich notwendigen Mobilität, in der Akteure von A nach B müssen oder Waren transportiert werden, sind es der Tourismus und die Tagungs- und Konferenzhaie, die dafür sorgen, dass der Planet unter zu viel Verkehr leidet.
Die gegenwärtige Krise könnte dazu beitragen, das tatsächlich Notwendige wieder in den Fokus zu nehmen und das Lässliche mit einem anderen Blick zu betrachten.
Doch keine gute Botschaft ohne Skepsis. Was mit der Chance, durch die Digitalisierung notwendige Mobilität einschränken zu können, korreliert, ist der Irrglaube, soziale Interaktion durch Technik ersetzen zu können. Konfliktäre Situationen, die sich auf dem Bildschirm und über Mikrofone entwickeln sind etwas anderes, als wenn sich zwei Tiere, die riechen und schmecken, die wittern und empfinden, gegenüber sitzen.
Die Technik, eine drastische Reduktion unmittelbarer Erfahrung, erzeugt Kälte und Gefühllosigkeit. Letzteres wirkt bei gravierenden Entscheidungen verheerend und muss vermieden werden. Was also für die oben beschriebenen Kohorten gilt, darf zum Beispiel nicht für Politikerinnen und Politiker gelten. Zu ihrer Aufgabe gehört es, zu spüren, was auf der Straße, im Laden, im Büro, in der Fabrikhalle, im Theater und allen anderen Routinen vor sich geht. Bereits heute wird nicht zu Unrecht moniert, dass dieses Gespür einigen aus dem politischen Feld gehörig abhanden gekommen ist. Die Reduktion auf digitale Kommunikationsformen würde diese Tendenz drastisch verstärken.
Warum? In wessen Interesse?
Wie zu sehen, stellt die Krise eine beträchtliche Chance dar, Fehlentwicklungen zu korrigieren beziehungsweise auch neue Qualitäten zu erzeugen. Es verlangt allerdings Aufmerksamkeit und Differenzierung. Die tatsächlich vorhandene Komplexität verbietet Pauschalisierungen. Wie eigentlich immer, ist es geraten, die Frage nach dem „Warum“ und die nach „In wessen Interesse“ zu stellen.
Vieles wird dahin führen, dass das Spannungsfeld von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Notwendigkeit in den Fokus tritt. Die Berichte über China und dessen Vorgehen gegen die Pandemie und der Vergleich mit den hiesigen Verhältnissen deutet auf diese Frage hin. Wahrscheinlich wird es in den nächsten Jahren genau darum gehen. Individuum versus Kollektiv. Vielflieger hin oder her.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.