Mensch werde endlich wesentlich, damit das Wesen Mensch auch künftig noch sein kann!
Der Glanz nach der Hässlichkeit
Der Titel des Märchens „Das hässliche Entlein“, geschrieben von Hans Christian Andersen und 1843 veröffentlicht, wurde zur geflügelten Metapher für einen von seiner Umgebung unterschätzten Menschen, dessen Vorzüge lange verkannt werden, bis sie sich völlig unerwartet in vollem Glanz enthüllen.
Will uns das von Andersen so schön erzählte Volksmärchen vom hässlichen Entlein sagen, dass der Mensch zwar als ein unvollkommen ausgestatteter, hässlicher Unwissender erscheint, sich aber auch plötzlich als ein um schöne Vollkommenheit bemühter, moralisch selbstbewusst handelnder, strebsamer Charakter entfalten kann?
Vielleicht hat uns Sokrates diese Frage mit seinem berühmten Ausspruch „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ beantwortet. Seit es diesen Satz gibt, wird immer wieder gerätselt, was uns der antike Philosoph damit sagen will. Sokrates ging es darum zu ergründen, wie sich Menschen zueinander in den verschiedensten Situationen sinnvoll verhalten sollten; er musste dabei immer wieder feststellen, dass es oft schwer fällt zu entscheiden, was dabei das moralisch Gute oder das Schlechte ist.
“Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!”
Leben wir gegenwärtig immer noch „in finsteren Zeiten“ wie es Bertolt Brecht [1] von sich feststellte und wie es Anna Seghers [2] für sich wahrnahm?
Bertolt Brecht gilt als der bedeutendste Vertreter einer gesellschaftlich engagierten Literatur im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Nach einer Zeit als „Bürgerschreck“ in München und Berlin, wo seine nihilistisch-expressionistischen Gedichte und Stücke Skandal erregten, entdeckte Brecht 1926 den Marxismus und engagierte sich zunehmend für eine sozialistisch-kommunistische Gesellschaftskritik.
Der Stückeschreiber, wie er sich selbst bezeichnete, musste während der Hitler-Diktatur ins Exil, wie hunderte anderer Künstler auch. 1933 emigrierte er nach Dänemark, später nach Schweden und Finnland. 1941 floh er vor den Nazis in die USA, wo er sich nach dem Krieg wegen „unamerikanischen Verhaltens“ verantworten musste.
1948 kehrte er nach Ost-Berlin zurück. Dort leitete er seine eigene Theatergruppe, das Berliner Ensemble. Er starb 1956. Das Gedicht „An die Nachgeborenen“, er schrieb es zwischen 1934 uns 1938 im dänischen Exil, ist eine Art „geistiges Testament“. Brecht zieht darin eine Bilanz seines Lebens:
“Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende hat die furchtbare Nachricht nur noch nicht empfangen …”
So beginnen die an die Nachgeborenen gerichteten Mahnungen. “Was sind das für Zeiten”, fragt Brecht, “… wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!” Und er stellt fest, dass es wahr sei, dass er noch seinen Unterhalt verdiene, aber man möge ihm glauben, es sei nur ein Zufall. Nichts von dem, was er tue, berechtige ihn dazu, sich satt zu essen. Nur zufällig sei er verschont.
“Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren”, schreibt er. Wie könne er essen und trinken, wenn er dem Hungernden entreiße, was er esse, und sein Glas Wasser einem Verdurstenden fehle? Und doch esse und trinke er. Brecht beendet die erste Strophe:
“Ich wäre gerne auch weise. In den alten Büchern steht, was weise ist: Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit ohne Furcht verbringen, auch ohne Gewalt auskommen, Böses mit Gutem vergelten, seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen, gilt für weise. Alles das kann ich nicht: Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!”
Die zweite Strophe beginnt mit Feststellungen zum eigenen Sein: „In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung als da Hunger herrschte. Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs und ich empörte mich mit ihnen.“ So sei seine Zeit vergangen. Dann schreibt Brecht: “Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten, schlafen legte ich mich unter die Mörder, der Liebe pflegte ich achtlos und die Natur sah ich ohne Geduld”, und weiter: “So verging meine Zeit, die auf Erden mir gegeben war. Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit. Die Sprache verriet mich dem Schlächter. Ich vermochte nur wenig. (…) Die Kräfte waren gering. Das Ziel lag in großer Ferne. Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich kaum zu erreichen.”
In der dritten Strophe spricht Bertolt Brecht uns an, die ihm Nachgeborenen, in der Hoffnung, dass es uns besser ergehen möge:
“Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut, in der wir untergegangen sind, gedenkt, wenn ihr von unseren Schwächen sprecht auch der finsteren Zeit, der ihr entronnen seid. Gingen wir doch (…) durch die Kriege der Klassen, verzweifelt, wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.“
Am Schluss steht die Feststellung: “Ach, wir, die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit konnten selber nicht freundlich sein. Ihr aber, wenn es so weit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist, gedenkt unserer mit Nachsicht.”
Den der Faschismus nicht brechen kann
Einen Höhepunkt ihrer Erzählkunst erreichte Anna Seghers in ihrem Roman “Das siebte Kreuz”. Es ist ein Hohelied auf die Solidarität und auf den Humanismus. Von der Schriftstellerin wird die Flucht Georg Heislers aus dem faschistischen Konzentrationslager Westhofen geschildert. Gelingen kann die Flucht nur, weil es trotz faschistischer Gewaltherrschaft überall noch Menschen gibt, die ihm weiterhelfen, teils für ihn unsichtbar, teils unmittelbar.
Heisler gelangt auf seinem Weg zu Menschen aus den verschiedensten gesellschaftlichen
Schichten, und fast alle helfen ihm weiter – sei es der jüdische Arzt, der Pfarrer oder der Gärtnerlehrling. In ihnen allen ist der Wille zum menschlichen Handeln lebendig geblieben.
Es werden aber auch solche Personen realistisch skizziert, die vor der Diktatur
kapituliert haben, wie zum Beispiel der Vater von Georg Heislers Frau sowie jene, die herabgesunken sind zu brutalen Henkersknechten.
Es ist Georg Heisler selbst, der in schwierigsten Situationen nicht kapituliert, der den Kampf nie aufgibt, und der in sich große menschliche Kräfte entfaltet, die der Faschismus letztlich nicht brechen kann.
Doch es bleiben Fragen: Ob der Mensch jemals in der Lage sein wird, die Ursachen für die Perversionen zu erkennen, die sich durch Faschismus und Nationalsozialismus entfalteten, um diese ein für alle mal zu überwinden? Und wenn ja, wie müsste dann der Umgang im alltäglichen Miteinander gestaltet werden?
Gründe für eine Revolution des Füreinander
Wenn das Ökosystem Erde weiter zerstört und unsere Welt immer mehr von der allgemeinen Krise der kapitalistischen Wirtschaftsweise geprägt wird, die in kurzer Zeit in zahllosen Varianten auftritt – Wirtschafts- und Finanzkrisen, Staatskrisen, Strukturkrisen, humanitäre Krisen, Terrorkrisen, Flüchtlingskrisen und Corona-Krise –, wird unser menschliches Dasein in einem nicht endenden Chaos verfallen. Darum gilt – heute mehr denn je – für uns alle, mit- und füreinander da zu sein und jetzt, in diesem Moment, mittels unserer Erkenntnisse und unserer kreativen Begabungen ein besseres Morgen zu beginnen.
Das Heranreifen bürgerlicher Revolutionen als ständig neue Herausforderung, hat die kapitalistische Produktionsweise beschleunigt und somit die Stoff-, Energie- und Informationsläufe verändert. Der Kapitalismus brachte der Menschheit großartige wissenschaftliche und technische Leistungen wie neu erschlossene Energiequellen, in der Natur so nicht vorkommende Materialien und Wirkstoffe, hohe Mobilität und einzigartige Möglichkeiten der Informationsübertragung.
Lebensqualität, Lebenserwartung und das subjektive Lebensgefühl vieler Menschen konnte erheblich gesteigert werden. Der Preis dafür ist hoch: Entmenschlichung.
Der Kapitalismus erhob die Selbstsucht zur Religion. Was sich Menschen gegenseitig in gigantischem Ausmaß antaten und antun, sucht in den vorangegangenen Epochen vergeblich nach einem Vergleich, da der Kapitalismus und die Entmenschlichung weltumspannend sind. Das Grauen wird dadurch einmalig.
Aus Profitgier, Habsucht und Machtbesessenheit wurden und werden Menschen massenweise versklavt und ausgebeutet, Völker aufeinander gehetzt, mit Krieg und Zerstörung überzogen, vernichtet und ausgerottet. Die Menschen suchen Zuflucht bei sich sozialrevolutionär gebärdenden Diktatoren und in der tödlichen Umarmung des Systems, dessen organisierter Terror unsichtbar wird. Dieser manifestiert sich nicht in Massenvernichtungswaffen oder Krankheitserregern. Seine Gewalt ist subtil. Sie ist gebündelt in der sinnlosen Überproduktion und der anschließenden Vernichtung von Lebens- und Arzneimitteln, die den wirklich Bedürftigen vorenthalten werden. Der Wahnsinn lässt sich als nackte Zahl ausdrücken: 24.000 Menschen sterben Tag für Tag an den Folgen von Hunger. Sie sterben jeden Tag!
Fiktion unterdrückt Realität
Die Umwelt in nicht zu rechtfertigender und zu verantwortender Weise zerstört, Menschen vertrieben und zur Heimatlosigkeit verdammt. In den letzten drei Jahrzehnten hat sich die kapitalistische Produktionsweise dramatisch verändert. Noch nie in ihrer Geschichte hatte der Finanzsektor ein so großes Gewicht. Der Kauf und Verkauf von Aktien, Schuldtiteln und anderen Zahlungsversprechen ist ins Zentrum der Kapitalakkumulation gerückt, die “Realwirtschaft” ist nur noch ein Anhängsel der “Finanzindustrie”; dieser Fiktion des Absoluten.
Verursacht werden diese Wandlungen durch die als Triebkraft zur Produktivitätssteigerung wirkende, profitorientierte Vorfinanzierung des Wirtschaftens und überhaupt aller Kreisläufe des menschlichen Lebendigseins.
Die für das kapitalistische Wirtschaften notwendige, die Kapitalakkumulation, erfolgt nunmehr zum weit überwiegenden Teil aus dem Fluss von Finanzmarktprodukten wie Derivaten und Staatsanleihen.
Durch das typisch kapitalistische Stimulieren der Wirtschaft mittels Kreditvergabe und Wucherverzinsung, über Geldverschiebung und Spekulation, durch lediglich auf geldwerten Vorteil bedachte, die etwaige Nützlichkeit der Arbeit als Mittel zur Profitmaximierung gebrauchende, kapitalistisch strukturierte Betriebswirtschaften und durch die Dominanz von Ware–Geld–Beziehungen in allen Bereichen des Zusammenlebens, werden die Menschen von all ihren auf Nützlichkeit orientierten Motivationen entfremdet und gezwungen zu vordergründig geldwerten Profit erwirtschaftender Arbeitsleistung: es ist Sklaverei.
Durch die aus verzinster Vorfinanzierung erwachsende Akkumulation des Kapitals und durch das sich gegenseitige Niederkonkurrieren von mit Zins- und Tilgung belasteten Betriebswirtschaften kommt es zur Über- und Nonsens-Produktion, zur Verschwendung von Ressourcen, dem Raubbau an der Natur, den Umweltkatastrophen, kriegerischen Auseinandersetzungen, sozialen Ungerechtigkeiten, Arbeitslosigkeit und Versklavung. In dieser Melange kristallisieren sich schreckliche Gewaltanwendungen und unerhörte Grausamkeiten bei der politischen Machtausübung.
Der Verlust der Freiheit
Die Eigentums- und Besitzverhältnisse geraten durch die Dominanz der Finanzwirtschaft in Bewegung. In Bezug auf Unternehmertum und Arbeit dreht sich in letzter Instanz alles um Kauf beziehungsweise Verkauf von Waren, besonders der Ware Arbeitskraft. Bildung wird schließlich auf pure Wissensvermittlung reduziert, die es den (Aus-)Gebildeten ermöglichen soll, das Erlernte bedarfsgerecht vermarkten zu können.
Aus frei über Eigentum an Produktionsmitteln verfügenden und somit nützliche Werte erschaffenden Unternehmern, gehen final an das gierige Ringen um Maximalprofit gebundene und dadurch in ihren Handlungsspielräumen kaum noch freie, oft nur anonym über Wertpapiere mit ihren Unternehmen verbundene Kapitalbesitzer hervor.
Bei vernünftiger Anwendung der Produktivitätspotenziale, die durch die kapitalistische Wirtschaftsweise hervorgebracht wurden, könnte schon heute mit weniger als fünf Stunden produktiver Tätigkeit pro Arbeiter und Tag ein gutes Leben für alle gegenwärtig lebenden Menschen gewährleistet werden. Und dies ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören.
Ein Haus der Menschlichkeit, in dem der Mensch des Menschen Wert sein kann, braucht ein gutes Fundament. Bildung, Kreativität und Eigenwilligkeit sind tragende Säulen des Menschseins.
Um im Leben Zufriedenheit, den Lohn für alles Geleistete, zu erlangen, sind wir Menschen ständig auf der Suche nach Weisheit, Stärke und Schönheit. Darum ist ein jeder von uns aufgefordert, in sich, um sich und über sich zu schauen, um so die Wahrheiten über das Leben zu erfahren.
Quellen und Anmerkungen
[1] Bertolt Brecht: An die Nachgeborenen. Das politische Gedicht wurde im Juni 1939 in “Die neue Weltbühne, Paris” veröffentlicht. Brecht äußert sich zu den Verhältnissen in den Zeiten des Nationalsozialismus. Seine Einlassungen zu Vergangenheit und Zukunft sind die eigentliche Botschaft „an die Nachgeborenen“. Eine von Brecht selbst gesprochene Audio-Aufnahme des Gedichts ist auf https://www.lyrikline.org/de/gedichte/die-nachgeborenen-740 (abgerufen am 4. April 2020) verfügbar. ↩
[2] Anna Seghers: Das siebte Kreuz. Der Roman, entstanden zwischen 1938 bis 1942, beschreibt die Flucht von sieben Häftlingen aus einem Konzentrationslager während der Zeit des Nationalsozialismus. ↩
Illustration: Neue Debatte
Frank Nöthlich (Jahrgang 1951) wurde in Neustadt/Orla (Thüringen) geboren. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und sechs Enkelkinder. Er studierte Biologie, Chemie, Pädagogik, Psychologie und Philosophie von 1970 bis 1974 in Mühlhausen. Nach dem Studium war er an verschiedenen Bildungseinrichtungen als Lehrer tätig. Von 1985 bis 1990 war er Sekretär der URANIA-Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse. Später arbeitete er als Pharmaberater und ist heute Rentner und Buchautor (www.briefe-zum-mensch-sein.de). Er sagt von sich selbst, dass er als Suchender 1991 in der Weltbruderkette der Freimaurer einen Hort gemeinsamen Suchens nach Menschenliebe und brüderlicher Harmonie gefunden hat.