Angeregt durch den Brief eines Freunde, der seit mehr als drei Jahrzehnten in einem immer noch fernen Land auf einem anderen Kontinent lebt, kam ich ins Grübeln. Er hatte geschrieben, dass ihm zunehmend die Frage durch den Kopf gehe, was die Versäumnisse und Fehler unserer Generation seien, wenn wir nun auf vieles zurückblickten.
Reflexion
Wir selbst seien mit unseren Eltern auch nicht gerade zimperlich umgegangen und wir hätten bei jeder Gelegenheit laut deklamiert, dass wir alles anders und besser machen wollten. Er spielte auch auf das an, was wir alle zunächst im Kopf haben, wenn wir darüber nachdenken: Imperialismus und Krieg beziehungsweise Frieden, soziale Gerechtigkeit, Emanzipation und Ökologie.
Bei redlicher Überlegung waren das aber nicht die Themen, die den ursprünglichen Impuls zur persönlichen Revolte gaben. Das waren andere Erscheinungen. Ich versuchte mich in die Stimmung zu versetzen, die bei mir vieles ausgelöst hatte und ich hatte sehr schnell Begriffe im Kopf wie Enge und Langeweile. Und wie von selbst tauchten dann die ersten Parolen auf, die vielen meiner Generation durch den Kopf gingen: Abhauen, Rauswollen, Ausbrechen. Ja, ich glaube, es waren tatsächlich die soziale Enge und die unsägliche Langeweile, die herrschte, wenn Schule und Arbeit getan war.
Die großen politischen Themen seien einmal ausnahmsweise ausgespart. Aber gerade Enge und Langeweile haben den Wunsch nach Mobilität erhöht und das Überwinden von Grenzen zur Bedingung gemacht. Die Persönlichkeitsbildung meiner Generation fand zu einem beträchtlichen Maße auch durch Reisen statt. Meistens mit wenig Mitteln, dafür aber im Bestehen großer Abenteuer. Das Reisen bestand aus der Nutzung falscher Straßen und dem unbeabsichtigten Treffen Fremder, die einem Perspektiven eröffneten, von denen wir vorher nichts wussten, die manchmal bedrohlich waren, aber oft auch bereichernd. Der unbestechliche Reiz dieser Unternehmungen bestand darin, ins Unbekannte zu kommen, das neue Blicke öffnete.
Impulse
Die soziale Sprengkraft von Enge und Langeweile ist selten beachtet worden. Wenn es jemand war, dann Ernst Bloch in seinem Prinzip Hoffnung. Selbst aus Ludwigshafen stammend, wusste er, wovon er sprach. Er wies darauf hin, dass dieses Fühlen von Einschränkung und Öde den Impuls für die Revolte geben kann. Aber Bloch gehört zu den Weisen, die in der aktuellen Welt in Vergessenheit geraten sind. Vielleicht, weil die Hoffnung ihrerseits auf außerplanetarischer Reise ist.
Der Grund dafür ist nämlich ein Resultat dessen, was wir Globalisierung nennen. Was den ursprünglichen Impuls der Revolte ausmachte, ist zurück. In einer nie gekannten Weise sind Enge wie Langeweile zurückgekehrt. Wer heute noch behauptet, er ginge in ein anderes Land, weil dort alles anders sei, der war lange nicht mehr unterwegs.
Die Globalisierung in Form von Produktions- und Warenketten hat nahezu global und flächendeckend etwas mit sich gebracht, das auch im Sprachgebrauch lange alles dominiert hat: die Standardisierung. Alles ist überall gleich: Waren, die Form der Bezahlung, Unterbringung, Speisen, Verkehrswege. Und, zur Krönung, wer ganz sicher sein will, dass er auf seiner Reise niemandem begegnet, der ihm Rätsel aufgeben könnte und in keine Straße einbiegt, auf der er etwas tatsächlich Neues noch erleben könnte, der lässt sich von einer App durchs den bekannten Standard der Verkehrs- und Lebensform führen.
Ausbrechen
Überall das Gleiche. Das ist, selbstverständlich auf einem anderen Niveau, die Rückkehr von Enge und Langeweile. Die Frage ist nur, ob sich irgendwann das Gefühl breit macht, aus dieser uniformen Welt ausbrechen zu wollen. Der Unterschied zwischen dem Damals und dem Heute besteht darin, dass es noch vor der glorreichen Globalisierung reichte, seinen Schlafsack zusammenzurollen und den Daumen in den Wind zu halten. Heute bildet die geographische Flucht vor Enge und Langeweile keine Option mehr. Heute muss alles verändert werden. Und zwar genau dort, wo der Mensch sich aufhält.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
Eine Antwort auf „Enge und Langeweile als Impulse der Revolte?“
Interessanter Blickwinkel. In der Tat war es ja schon bei den Römern so, dass man die Bevölkerung mit Brot und Spielen beschäftigt hat. Auf heute übertragen wären das wohl Grundbedürfnisse wie Essen und Miete sowie Benzin + alle Art von Freizeitbeschäftigung.
Die funktionieren momentan nicht, wegen Corona. Das dürfte aber wohl nur ein vorübergehender Effekt sein. Ob die erwähnte ‘globale Standardisierung’ genügend Langeweile erzeugt, wenn Ausgehen, Konzerte, Sport, Reisen, Gaming etc. etc. wieder möglich sind, das kann man bezweifeln. Die gebotenen Ablenkungen sollten dann wieder ausreichen, insbesondere wenn die wirtschaftlichen Aspekte auch passen.