Der Begriff der Deprivation hat quasi über Nacht einen neuen Stellenwert erhalten. Etymologisch, also bedeutungshistorisch, meint er nichts anderes als die Beraubung eines Menschen von Dingen, die ihm lieb sind. Dass sich daraus eine regelrechte Wissenschaft entwickelt hat, die so genannte Deprivationsforschung, hat etwas mit der allgemeinen Verwissenschaftlichung der Welt, mit dem Ansinnen von Herrschaft und mit der Überalterung der Gesellschaft zu tun. Das klingt verwegen, ist jedoch folgerichtig.
Gehör, Sicht und Geschmack
Die beiden genannten Felder sind, in ihrer Chronologie, zunächst im Strafvollzug und dann in den Altenheimen bearbeitet worden. Bei ersterem ging es darum, Kenntnisse darüber zu haben, welche Folgen die soziale Deprivation auf als gefährlich eingestufte Strafgefangene haben kann.
Bei der zweiten Variante wurden mit dem Alter einhergehende Folgen sensorischer, kognitiver und sozialer Deprivation beobachtet und Ansätze entwickelt, wie therapeutisch den zu beobachtenden Verlusten der Persönlichkeit entgegengewirkt werden kann.
Damit wären die drei kardinalen Typologien der Deprivation benannt. Die sensorische beginnt mit dem Verlust des Individuums in der Fähigkeit der eigenen Sinneswahrnehmung. Einschränkungen von Gehör, Sicht und Geschmack können – neben dem tatsächlich physischen Verlust – auch Folgen auf Lebensfreude und Lebenswillen haben.
Die Textur des Individuums überschreitet immer die Grenzen zwischen Physis und Psyche. Die kognitive Deprivation resultiert aus der schwindenden Fähigkeit von Gedächtnis und Abstraktion und hat eine dramatische Abnahme am allgemeinen gesellschaftlichen Leben zur Folge.
Letztendlich ist die soziale Deprivation der Verlust an sozialen Kontakten und hat eine psychische Vereinsamung zur Folge, die in schwerer Depression enden kann. Letzteres war die Motivation von Haftformen wie der Kontaktsperre, um Häftlinge mental zu zerstören.
Deprivation als Massenphänomen
Warum das Thema? Weil, ohne dass wir uns dessen bewusst sind, alle genannten Formen der Deprivation auf die Gesellschaft zukommen oder bereits zugekommen sind. Was bisher mehrheitlich für Alte und Strafgefangene galt, ist jetzt in der gesamten Gesellschaft und zunehmend als Massenphänomen zu beobachten. Damit sind nicht die gegenwärtigen Beschränkungen gemeint, solange sie nur temporär gelten würden. Zu einem Problem könnten sie jedoch auswachsen, wenn der Zustand sich stabilisiert, das heißt, wenn die gewohnten Sozialkontakte auf Dauer drastischen Einschränkungen unterliegen.
Alle drei Kategorien der Deprivation, die sensorische, die kognitive sowie die soziale, sind bereits im Stadium ihrer Ausbreitung. Vieles hat mit dem Prozess der Zivilisation zu tun, in dem wir uns befinden und der aus vielen guten Absichten heraus stattfindet.
Man könnte die einzelnen, bereits beobachteten und beschriebenen Phänomene Revue passieren lassen, um sich das Ausmaß bewusst zu machen. Dazu würde es reichen, sich mit Lehrerinnen und Lehrern aus einem typischen, normalen Schulbetrieb zu unterhalten. Sie würden beschreiben, welche Entwicklungsdefizite sie täglich beobachten:
- Das Nicht-Ausbilden eines repetitiven Gedächtnisses durch permanenten Zugriff auf Daten,
- die Bewegungseinschränkungen durch Bewegungsmangel, der ebenfalls kognitive Defizite hervorbringt
- und die ansteigende soziale Kälte, die durch digitalisierte Kommunikation und den damit einhergehenden Verlust der Unmittelbarkeit entsteht.
Die nun aus der Not entstehende Ausbreitung der Digitalisierung, die die direkte soziale Kommunikation noch weiter zurückdrängen wird, hat analoge, potenzierte Wirkungen zur Folge.
Es ist also ratsam, sich mit dem Gebiet der Deprivationsforschung intensiver zu befassen, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, was das Wesen des zeitgenössischen Individuums und seines Bedürfnisspektrums tatsächlich ausmacht, und was eine Degradierung desselben zu einem Objekt technisch rationaler Prozesse für dessen Pathologisierung bedeutet: in sensorischer, in kognitiver wie in sozialer Hinsicht.
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Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.