Die Corona-Krise offenbart Verschiebungen in den Beziehungen zwischen den Mächten, die in den zurückliegenden Jahren das Geschehen auf der Welt bestimmt haben. Das gibt Anlass darüber nachzudenken, was sich daraus entwickeln und wie damit umzugehen sein könnte.
Deutlicher als bisher tritt jetzt die neue Rolle Chinas hervor. Nachdem die Krise von dort ihren Ausgang nahm, ist China jetzt als Helfer der bedrängten USA und Europas angetreten.
China liefert inzwischen nicht nur Atemmasken und Schutzanzüge in großem Maßstab in westliche Länder, auch die rigiden Methoden der Bevölkerungskontrolle, mit denen China die Ausbreitung des Virus eindämmte, finden ihre Nachahmung im Westen. Wobei, was noch im Weiteren genauer zu beobachten sein wird, der Westen bisher nur die technische, nicht die tiefergehende sozio-technische Seite der Kontrolle imitiert. Russland, das vor der Corona-Krise noch weltweit den Krisenmanager abgab, tritt zurzeit, mit seiner eigenen Krise beschäftigt, erkennbar in die zweite Reihe.
Nur die Ablösung eines Hegemon durch einen anderen?
Aber geht es bei all dem nur um die Ablösung eines Hegemon durch einen anderen, der USA als führende Kraft des zurückliegenden Jahrhunderts durch China – und Russland als Zuschauer? Ganz sicher nicht. Es geht um mehr. Es geht um grundlegende Systemkonkurrenz – westlicher Liberalismus konkurriert mit Despotismus chinesischer Prägung und oligarchischem Anarchismus russischer Art. Die übrigen Teile der Welt werden in diesem Fahrwasser mitgezogen.
Diese Kategorisierung schließt nicht aus, dass Elemente des einen Systems auch in den beiden anderen mit enthalten sind. Die Kategorien kennzeichnen nur die jeweils herrschende Haupttendenz. Es sind nur Modelle. Aber die Frage stellt sich: Welcher Spielart gehört die Zukunft?
Anders gefragt, nach welcher Seite der in den herrschenden Verhältnissen angelegten Elemente wird sich die weitere Entwicklung nach Überwindung der jetzigen Krise bewegen? Oder deuten sich gar Tendenzen einer Überwindung der “klassischen” und auch der jüngeren Formen des Kapitalismus an?
Zurzeit sieht es so aus, als ob die despotische Variante des Kapitalismus, die China praktiziert, mit ihrer Maxime: Freiheit durch Wohlstand für alle, statt Freiheit für alle ohne Wohlstand, für die Mehrheit der Chinesen, vielleicht sogar darüber hinaus die attraktivere und damit politisch auch die leistungsfähigere ist – auch wenn klar ist, dass auch in China manche Menschen “gleicher” sind als andere.
Im Vergleich zu den Wohlstandsgewinnen unter der despotischen Führung der Partei Chinas hat der Westen jedoch, genauer der “wilde” Kapitalismus in seiner neoliberalen amerikanisch dominierten Form des Turbo-Kapitalismus unter der Maxime des “freien Marktes” eindeutig in eine Richtung geführt, die an den Bedürfnissen der Mehrheit der Menschen extrem vorbei geht. Diese Ausplünderung der Welt im Namen des Liberalismus hat ihn zu dem Auslaufmodell gemacht, das jetzt in seine finale Phase kommt.
Bleibt das hybride russische Modell – das ist nicht liberaler, aber auch nicht despotischer Kapitalismus, sondern staatlich gezähmte anarchische Oligarchie, die noch halb in den gemeinschaftlichen Selbstversorgungsstrukturen der russischen Geschichte gefangen ist.
In dieser Gesellschaft wird das Wohlergehen der Menschen nicht systemisch, nicht durch Freiheitversprechen, aber auch nicht durch staatliche Kontrolle, sondern durch die Führungseigenschaften von Personen und durch persönliche Beziehungen gewährleistet – oder eben auch nicht: Guter Chef, gutes Leben, schlechter Chef – dann muss man eben sehen, wie man mit eigenen Mitteln durchkommt.
Wahl zwischen drei Übeln?
Was also offenbart die gegenwärtige Krise? Die Wahl zwischen drei Übeln …? Entweder Wohlstand ohne Freiheit im lückenlosen Geflecht eines hermetischen Parteienstaates? Oder Freiheit in einer “offenen Gesellschaft” ohne Verantwortung für das Wohl des einzelnen Menschen? Oder Abhängigkeit von der Willkür oligarchischer Führung?
Wie schon angedeutet: keine der Strukturen kommt einseitig in ihrer reinen Form vor.
- Im “wilden” Kapitalismus wachsen die privaten Kapitale zu quasi-staatlichen Monopolen, werden staatliche Organe von privater Willkür usurpiert wie zurzeit die Weltgesundheitsorganisation vom Kapital des Silicon Valley.
- Im despotischen Kapitalismus entwickeln sich andererseits Freiräume für privates Kapital, innerhalb derer sich oligarchische Strukturen herausbilden wie Alibaba oder Huawei in China.
- In der oligarchischen Anarchie des hybriden Kapitalismus greifen staatliche Regulierung und private Monopolbildung übermächtig ineinander wie exemplarisch bei Gasprom.
Und nicht alle Seiten innerhalb der jeweiligen Systemgrenzen sind schlecht: Freiheit und Menschenrechte des Liberalismus sind ein förderungswürdiger Wert, ebenso wie der allgemeine Wohlstand in China und die Fähigkeit der russischen Bevölkerung zur Selbstversorgung unter oligarchischer Obrigkeit.
Letztlich aber sind alle drei Systeme – allen ihren Unterschieden zum Trotz – Varianten des heutigen Kapitalismus, die auf dem Niveau der Selbstverwertung des Kapitals angekommen sind. Und sie sind – muss man angesichts der gegenwärtigen Krise hinzuzufügen – in Konkurrenz zueinander festgefahren. Auf dieser Schiene geht es ganz offensichtlich nicht weiter, nicht ohne Transformation jedenfalls.
Alle drei Varianten, wenn sie sich einseitig verwirklichen, führen letztlich notwendig in einen kranken globalen Organismus, in dem immer mehr Menschen “überflüssig” werden und weitere Krisen tödlich zu enden drohen.
Die allseitige Digitalisierung und Roboterisierung wird diese Krankheit nicht aufhalten. Sie wird ihren Verlauf nach dem Motto “Wer die Digitalisierung beherrscht, beherrscht die Welt” eher zuspitzen. Dagegen hilft eine flächendeckende Impfung der Weltbevölkerung, wie sie von herrschenden Kreisen zurzeit propagiert wird, erkennbar nicht. Sie ist eher geeignet den Status quo auf dem Niveau eines globalen sozialen Pulverfasses präventiv zu fixieren.
Was gebraucht wird
Was statt solcher Prävention gebraucht wird, sind Initiativen von unten, welche die besten Seiten der globalen Strömungen des Westens, Chinas und Russlands in lebensförderliche Wechselwirkung miteinander, statt in Konkurrenz gegeneinander bringen – orientiert an Freiheit, Wohlstand und Solidarität in gegenseitiger Förderung, Abstimmung und Kontrolle.
Aber wie kann das sein? Die Antwort fällt schwer und liegt doch auf der Hand. Sie ist in vielen Ansätzen auch schon erkennbar, wo Menschen sich rund um die Befriedigung ihres Lebensbedarfs in selbstbestimmten Versorgungsgemeinschaften vor Ort und regional zu organisieren beginnen:
Es geht darum, soziale Puffer zu schaffen, die sich lokal selbst helfen können und sich global miteinander vernetzen, statt sich auf private oder staatliche Monopole, oder auch auf einen gutwilligen Oligarchen zu verlassen.
Dezentralisierung staatlicher, wirtschaftlicher und technischer Monopole, Selbstorganisation von Kommunen und Regionen, die sich in freiem Zusammenschluss der Menschen vor Ort in globaler Kooperation föderal miteinander verbinden, das sind die Stichworte der kommenden Jahre.
Aber diese Entwicklung hat noch keinen Namen, in dem sich die örtlichen und regionalen Initiativen gegenseitig erkennen und unterstützen können. Die gegenwärtige Krise könnte der Anlass sein, dass sich diese Basisinitiativen rund um den Globus als die eigentlichen Akteure der sich andeutenden zukünftigen sozialen Ordnung miteinander verbinden.
Literatur zum Hintergrund
Die Kraft der Überflüssigen und die Macht der Über-Flüssigen
Autor: Kai Ehlers
Genre: Sachbuch
Sprache: Deutsch
Seiten: 311
Veröffentlichung: 2016
Verlag: Verein zur Förderung der deutsch-russischen Medienarbeit e.V.
ISBN: 9783-7412-98066
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag “China neue Ordnungsmacht – oder doch etwas darüber hinaus?” von Kai Ehlers erschien erstmals auf
Russlandkontrovers, einem Ressort von Russland.News.
Illustration: Neue Debatte
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