Kriminalromane sind nicht unbedingt das Genre, das ich suche. Es sei denn, es handelt sich um besondere Werke, bei deren Lektüre man etwas erfahren kann über eine besondere Epoche oder Kultur, wie zum Beispiel Umberto Ecos “Der Name der Rose”.
Mitgerissen von Hideo Yokoyama
Mit dem Hinweis, man könne daraus sehr viel über die japanische Kultur lesen, gab mir ein Bekannter, dessen Urteil ich schätze, den Tipp für Hideo Yokoyamas Roman 64. Dass auf dem Cover von einem Thriller die Rede war und das Klischee von Hochhäusern und Mandelblüten zu erspähen, ließ Skepsis zurück. Ich sollte mich sehr täuschen.
Um falschen Rückschlüssen vorzubeugen: Nein, für mein Gefühl war es kein Thriller, obwohl es sich bei den gesamten 768 Seiten um die Behandlung eines Kriminalfalls handelt. Und nein, obwohl man in dem Buch einiges über die japanische Gegenwartskultur und deren Arbeitsethos erfährt, für diese Erkenntnisse braucht man kein so dickes Buch zu lesen. Und dennoch hat mich das Buch von der ersten bis zur letzten Zeile mitgerissen.
Die Handlung spielt im Jahr 2003. Und es geht die ganze Zeit um einen 14 Jahre zurückliegenden Entführungsfall mit einem trotz Lösegeldübergabe erfolgten Mord an einem kleinen Mädchen.
Brisanz gewinnt der Fall, der das Aktenzeichen 64 trägt, weil die Möglichkeit, den oder die Täter zu überführen, kurz vor der Verjährung liegt. Und eine besondere Note bekommt die ganze Geschichte, weil die Hauptfigur, der Pressechef der örtlichen Polizeibehörde namens Hikami, während der erzählten Handlung unter dem Verschwinden der eignen Tochter leidet.
Der große Coup des Buches ist jedoch etwas ganz anderes. Es schildert mit ungeheurer Beobachtungsgabe die Funktionsweise unterschiedlicher, miteinander korrelierender Organisationssysteme und deren Reibungsflächen.
An der Schnittstelle
Da ist die lokale Polizeibehörde mit ihren Subsystemen Kripo, Verwaltung und Pressestelle. Da ist zudem die in Tokyo sitzende Oberbehörde der nationalen Polizei sowie die lokale und die nationale Presse. Hikami, der Protagonist, sitzt als Pressechef der lokalen Polizeibehörde, genau an der Schnittstelle. Seine Aufgabe ist es, zwischen den Interessen von Polizei und Presse zu vermitteln. Das erzeugt Reibung, weil die lokale Polizei soviel Diskretion wie möglich will, um die Ermittlungen nicht zu gefährden, die Presse hingegen soviel Information wie möglich, um die Öffentlichkeit ins Bild zu setzen.
Da das Leben nie nach der reinen Theorie funktioniert, kommt es zur Verheimlichung von Fehlern hier, zur Skandalisierung von Kleinigkeiten dort, und zu Machtkämpfen zwischen Polizeibehörde und deren Verwaltung sowie politischen Interessen derer im fernen Tokyo.
Dabei entspannt sich ein Szenario, das als ein elaborierter praktischer Exkurs in die Systemtheorie bezeichnet werden kann.
Der Autor Yokoyama gibt in seinem Buch einen Einblick in den ständigen Konkurrenzkampf zwischen Zweck- und Wertrationalität, zwischen Ziel und Zweck, zwischen Funktion und Person. Es entstehen Prototypen der beiden, nicht nur in Japan existierenden Archetypen aller Arbeitsorganisationen. Die, deren Streben nach Macht, Karriere, Einfluss und Ansehen ihr ganzes Handeln dominiert und die, die auch die Macht und den Einfluss wollen, um ihre Funktion in der Zweckbestimmung der Organisation gut zu erfüllen. Wenn man so will, sind das die Prototypen der klassischen Tragödie im modernen Arbeitsleben. Daran arbeite sich der Roman konsequent ab – und das ist der große Gewinn bei seiner Lektüre.
Je nach Betrachtungsweise: Wer die Systemtheorie in seiner praktischen, leicht lesbaren und spannenden Variante genießen will, der hält tatsächlich einen Thriller in der Hand. Die Marketingabteilung des Verlages hatte das jedoch wohl nicht im Sinn.
Informationen zum Buch
64
Autor: Hideo Yokoyama
Genre: Roman/Thriller
Sprache: Deutsch
Seiten: 768
Veröffentlichung: 2018
Verlag: Atrium Verlag
ISBN: 978-3-855-35017-9
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.