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Corona: Seuchenherd Europa bedroht Afrika

Es ist höchste Zeit, die Corona-Frage in die Systemfrage zu verwandeln, denn das Leben im globalen Süden ist durch die Metropolen des Weltkapitalismus bedroht.

Dieses Mal ist es umgekehrt und ungewohnt. Während Afrika gemeinhin als großes Ansteckungsrisikogebiet von allerlei Krankheiten und Seuchen gilt, droht nun die Gefahr für Afrika aus den Metropolen des Weltkapitalismus im globalen Norden.

Eine Krankheit der Weißen?

Es ist höchste Zeit, die Corona-Frage in eine kapitalismuskritische, also letztlich in eine Systemfrage zu verwandeln. Dabei geht es nicht um die Farbe der Haut, auch wenn den Gedanken von Kenny Tokwe spontan zugestimmt werden mag.

[…] Das sei “eine Krankheit der Weißen”, sagt Kenny Tokwe. Er sagt es ohne Bitterkeit, eher als Feststellung. Tokwe trägt ein Trikot des FC Liverpool und sitzt auf einer Bank vor einem Kreisverkehr im Süden Kapstadts. Der Kreisverkehr ist so etwas wie der Sozialäquator, nimmt man die rechte Ausfahrt, fährt man in die schönen Hanglagen und Gated Communities, hinter Elektrozaun verbarrikadierte Wohnsiedlungen. Biegt man nach links ab, dann kommt man in die Township Imizamo Yethu, ein paar Tausend Quadratmeter für 30 000 Menschen, Blechhütten und kleine Steinhäuser dicht an dicht. Nach rechts biegen am Kreisverkehr auch Porsches und SUVs ab. Nach links nur Minibusse und ein paar alte Toyotas.

“Es gibt bei uns das Gefühl, dass die Weißen, die das Geld haben zu reisen, den Virus mitbringen”, sagt Tokwe. Er sagt es mit einem Lächeln – woanders fliegen auch mal Steine. In Äthiopien wurden Europäer angegriffen, in Kenia Chinesen verprügelt und in Kamerun Deutsche beschimpft.” [1]

Kann es stimmen, was Kenny Tokwe gegenüber der Süddeutschen Zeitung sagte? Lässt sich die Krankheit überhaupt geografisch beziehungsweise nach der Hautfarbe zuordnen oder gar eingrenzen? Das Gegenteil ist offensichtlich der Fall. Wie jede andere Krankheit es tun könnte, legt Corona lediglich bloß, in welchen ökonomischen Umständen und sozialen Bedingungen man leben muss. Und welches Gesundheitssystem mit welchen Prioritäten um einen herum existiert. Dies ist nicht einfach klein oder groß, entwickelt oder nicht entwickelt, sondern gibt in seiner Gesamtheit darüber Auskunft, welches Interesse an einer einigermaßen gesunden Bevölkerung besteht, beziehungsweise, ob dies überhaupt der Fall ist.

Zusammengefasst: Die gleiche Krankheit ist nicht die gleiche Krankheit. Sie blüht, wächst und gedeiht unter unterschiedlichen ausbeuterischen Lebensbedingungen sehr unterschiedlich.

So gesehen wird sich das Coronavirus – wie von Experten leider befürchtet – wie eine Feuerwalze über Afrika hinwegbewegen. Dass die Pandemie Afrika erreichen wird, steht außer Frage. Noch sind die Fallzahlen gering. Bis jetzt sind 70.000 Infektions- und rund 2400 Todesfälle dokumentiert [2]. Außer in Ägypten, Südafrika und Algerien, wo sich längere Infektionsketten bildeten, traten nur vereinzelte Fälle auf. Dennoch gibt es warnende Stimmen.

“Afrika wird die Pandemie extrem schwer treffen”, warnt Senait Bayessa, Regionalleiterin der SOS-Kinderdörfer in Süd- und Ostafrika. Denn selbst besser entwickelte afrikanische Staaten hätten kein ausreichendes Auffangnetz für die humanitären Konsequenzen des Coronavirus. So habe beispielsweise Südafrika zwar eines der besten Gesundheitssysteme Afrikas, aber dennoch lediglich 1000 Betten auf Intensivstationen für 56 Millionen Einwohner. In Malawi seien es sogar nur 25 Betten für 17 Millionen Menschen – und einige afrikanische Staaten verfügen über keinerlei Intensivstationen. [3]

Die afrikanischen Stellvertreterkriege dynamisieren das Geschehen in unguter Weise:

“Vor allem in den Sahelstaaten sind die Gesundheitssysteme auch durch den anhaltenden Terrorismus unter Druck. Aktuell ist Burkina Faso besonders betroffen. Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) schätzt, dass rund 765.000 Menschen vor Terrorangriffen und Überfällen auf der Flucht sind. Nach Einschätzung der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen ist das Gesundheitssystem in den betroffenen Gebieten “komplett zusammengebrochen”. [4]

Die Aussage von Senait Bayassa klingt wie eine Warnung vor der erkennbaren Sintflut: “Die Virustoten dürften noch die kleinste Sorge sein.”

Wasser und Seife als Kostbarkeiten

Wie sollen geringste Schutzmaßnahmen – Händewaschen, Mundschutz tragen und einen Mindestabstand von 1,5 Metern einhalten zum Beispiel –, für die in Europa überall geworben wird, auch nur ansatzweise möglich sein, wenn man sich die Lebensbedingungen genauer ansieht, unter denen Millionen Menschen im globalen Süden leben müssen.

Es mag in europäischen Ohren sonderbar klingen, aber Seife ist in einigen Regionen Afrikas ein schier unerschwingliches Gut. Wasser ohnehin. In Nigeria existieren beispielsweise riesige Ländereien in der Größe Hessens, die mit Erdöl verseucht sind. Das “Schwarze Gold” der Industrienationen tritt aus undichten Ölleitungen aus, die internationale Ölkonzerne einfach leck zurückgelassen haben. Trinkwasser ist deshalb in diesen Regionen schwer zu finden, das kostbare Nass zum Hände waschen zu verwenden, ist ein unrealistischer Anspruch.

Wenn es also schon fraglich ist, ob Seife und ausreichend Wasser vorhanden sind, wie sollte dann in Slums, den Massenunterkünften der Armen, oder in einem Flüchtlingslager wie Dadaab in Kenia beispielsweise, wo etwa 300.000 Personen zusammengedrängt leben, Abstand gehalten werden? Das ist schlicht absurd.

Hilfe aus Deutschland?

Der Virologe Christian Drosten, der die deutsche Regierung berät und beständig vor den Gefahren des Coronavirus warnt, sagte in einem Interview mit dem Magazin Stern:

“In den afrikanischen Ländern wird in diesem Sommer der Peak der Infektionen auftreten. Ich mag mir gar nicht ausmalen, welche Bilder man sehen wird. Wir werden noch erleben, dass die Leute daran auf den Straßen sterben in Afrika. Die Situation wird schlimm sein, sehr schlimm.” [5]

Dass es in Afrika vielfach wegen der Rahmenbedingungen gar nicht möglich ist, auch nur im Ansatz jene Maßnahmen zur Eindämmung der Verbreitung des Virus einzuhalten, die Drosten empfiehlt, wird nicht Gegenstand der öffentlichen Diskussionen. Vielleicht auch deshalb nicht, weil durch die Flucht in die Enge der Nationalstaaten eine systematische Hilfe für die afrikanische Bevölkerung weder seitens der Europäischen Union (EU) noch durch Deutschland zu erwarten ist.

Es sind die Kirchen und Hilfsorganisationen, die aufopferungsvoll und unter höchstem persönlichen Einsatz per Spendenaktionen vor Ort tätig sind. Sie helfen nach Kräften und weit darüber hinaus, aber eine Abhilfe können sie naturgemäß nicht leisten.

Systematisch und in großem Stil haben die Chinesen tonnenweise Hilfsgüter, medizinisches Material und Experten in die Hotspots eingeflogen. Dafür wurde ihnen hochoffiziell von Deutschland und der EU der Vorwurf gemacht, sich Einflusssphären verschaffen zu wollen. So wird die Krankheit politisch und die Seuche nicht zum ersten Mal dort abgewickelt, wo der Kapitalismus seine blutige Ausbeutungsspur gezogen hat: bei den Armen. Es ist keine Seuche der Weißen, es ist eine Seuche des sozialen Status.

Flughund oder Schuppentier contra Kapitalismus

Selbst wenn das Corona-Virus einem chinesischen Flughund oder einem anderen Getier entstammt sein mag, so ist es in seinen Auswirkungen bereits ähnlich einer Seuche, die sich durch die schon eingetretenen Schäden, die der Kapitalismus verursachte, exponentiell ausbreiten kann.

Dass die Zahl der Corona-Infizierten und Corona-Toten überraschend gering ist, lässt zwei Vermutungen aufkommen: Wird wenig auf Corona getestet, gibt es auch nur wenige Fälle. Die zweite Vermutung, die möglicherweise Anwendung finden könnte, bezieht sich auf die Diagnostik. Korrekterweise sollten die gezählten Corona-Toten tatsächlich am Corona-Virus beziehungsweise dem durch das Virus ausgelösten Erkrankungen gestorben sein. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Kritiker führen ins Feld, dass bei vielen Toten zwar das Corona-Virus auffindbar, aber nicht zwingend als Todesursache anzusehen sei.

Die hohe Zahl der Toten in der Lombardei zum Beispiel – so formulieren es Kritiker – , dürfe nicht darüber hinwegtäuschen, dass in dieser Industrieregion die Kontamination und Luftverschmutzung besonders hoch sei und es schon deshalb viele (teilweise schwer) Lungenkranke und Tote gebe. Bei diesen wäre auch das Corona-Virus nachweisbar. Sie deshalb pauschal und ursächlich dem Virus zuzuordnen, wäre aber nicht korrekt.

Neben den medizinischen und diagnostischen Aspekten käme noch hinzu, dass dadurch die industriell-kapitalistischen Lebensbedingungen heilig gesprochen würden; als (Mit-)Verursacher wäre die Industrie fein raus. An ihre Stelle würde alleinverantwortlich das Virus treten und seltenes Getier: Chinesische Flughunde oder asiatische Schuppentiere, die dem Virus als Sprungbrett auf den Menschen dienten.

Die Einbeziehung der afrikanischen Länder in die kapitalistische Weltwirtschaft samt Landraub und die Fesseln der Freihandelsabkommen, die für die Erosion der heimischen Wirtschaft und ein dahinsiechendes Gesundheitswesen sorgen, blieben ebenfalls übersehen. Auch die grundlegenden strukturellen Probleme. Der Standpunkt einer Volksgesundheit existiert in Afrika in der Regel so nicht, weil das Volk zum großen Teil gar nicht wahrgenommen oder gebraucht wird, und sich die gesundheitliche Versorgung daher oft nur auf die Hauptstadt und wichtige urbane Zentren eines Landes und deren Umgebung beschränkt.

Der Irrtum

Kenny Tokwe unterliegt daher einem Irrtum: Weiß oder schwarz ist diese Pandemie nur unter einem ideologischen Blickwinkel, sonst nicht. Afrika wird nicht von einer Seuche erreicht, sondern ist von einer befallen, die sich in ökonomischen und sozialen Unterschieden längst einen epidemischen Ausdruck verliehen hat: sie nennt sich Kapitalismus.


Quellen und Anmerkungen

[1] Süddeutsche Zeitung (27. März 2020): Afrika ist auf sich allein gestellt. Auf https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-afrika-ist-auf-sich-allein-gestellt-1.4857412 (abgerufen am 06.5.2020).

[2] Der Standard (13. Mai 2020): Afrikas Kampf gegen Corona lässt andere Krankheiten wiederkehren. Auf https://www.derstandard.at/story/2000117458668/afrikas-kampf-gegen-corona-laesst-andere-krankheiten-wiederkehren (abgerufen am 14.5.2020).

[3] SOS-Kinderdörfer (29. März 2020): Tickende Zeitbombe: Afrika vor Corona-Pandemie. Auf https://www.sos-kinderdoerfer.de/informieren/aktuelles/news/afrika-vor-corona-pandemie (abgerufen am 14.5.2020).

[4] Domradio.de (16. März 2020): Coronavirus breitet sich in Afrika aus – Massenausbruch würde Systeme überfordern. Auf https://www.domradio.de/themen/corona/2020-03-16/massenausbruch-wuerde-systeme-ueberfordern-coronavirus-breitet-sich-afrika-aus (abgerufen am 14.5.2020).

[5] Stern (22. März 2020): Das Coronavirus hat Afrika erreicht: “Die Leute werden auf den Straßen sterben”. Auf https://www.stern.de/gesundheit/coronavirus-hat-afrika-erreicht—die-leute-werden-auf-den-strassen-sterben–9192596.html (abgerufen am 14.5.2020).



Illustration und Video: Neue Debatte und Gerhard Mersmann

Lehrer

Klaus Hecker (Jahrgang 1954) ging nach dem Abitur in Wetzlar 1973 nach Marburg und studierte Deutsch, Politik und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien. Von 1985 bis 2017 war er in der Universitätsstadt Lehrer an der Carl-Strehl-Schule, einem Gymnasium für Sehbehinderte und Blinde. Seit jeher engagiert er sich in sozialen und politischen Initiativen und tut dies noch heute. Als DSV-Lehrer "Skitour und Alpinist" ist er häufig im Alpenraum unterwegs.

Von Klaus Hecker

Klaus Hecker (Jahrgang 1954) ging nach dem Abitur in Wetzlar 1973 nach Marburg und studierte Deutsch, Politik und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien. Von 1985 bis 2017 war er in der Universitätsstadt Lehrer an der Carl-Strehl-Schule, einem Gymnasium für Sehbehinderte und Blinde. Seit jeher engagiert er sich in sozialen und politischen Initiativen und tut dies noch heute. Als DSV-Lehrer "Skitour und Alpinist" ist er häufig im Alpenraum unterwegs.

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