Johann Wolfgang von Goethe sah den Lebensweg seines Dr. Heinrich Faust als einen Weg von der vergangenen Negation des bisherigen menschlichen Miteinanders zur jeweils gegenwärtig notwendigen Negation für ein besseres Dasein der Menschheit.
Vom Natur-Wesen zum Kultur-Wesen
Nach der Grablegung Fausts lässt Goethe den Chorus Mysticus [1] singen: “Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis.” Das sich bewegende, sich ständig verändernde, also individuell stets vergängliche Sein, ist sich seiner selbst immer wieder ein neues sich vervollkommnendes und so seinem wahren Urgrund ein immer ähnlicher werdendes Gleichnis, das in stets neuer Unzulänglichkeit erscheint und stets nur gegenwärtig bestehen kann.
“Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis”, singt der Chor dann weiter. Das heißt, dass jede zwar weiter entwickelte Qualität aber immer noch unvollkommen ist. Und Goethe lässt den Chorus am Ende des Dramas singen: “Das Unbeschreibliche, hier ist’s getan, das Ewig-Weibliche zieht uns hinan.”
Er bringt damit zum Ausdruck, dass sich das niemals vollständig begriffliche Sein aus dialektischer Widersprüchlichkeit heraus prozessierte – also aus dem sich ewig mit dem männlichen auseinandersetzenden weiblichen Prinzip aus der sich ständig selbst befruchtenden, fortsetzenden und vervollkommnenden Wirklichkeit.
Der Mensch entwickelt sich aus seinem ursprünglichen, den Naturgesetzen hilflos ausgelieferten Dasein zum Selbstbewussten befähigten Gestalter seiner Wirklichkeit, also vom Natur-Wesen zum Kultur-Wesen: Wissenschaft ist als Resultat seiner schöpferischen Fähigkeiten die Herausbildung der produktiven menschlichen Kräfte.
Das produktive Potential
Durch Spielen, Lernen und Arbeiten entwickelt sich jeder Mensch vom hilfebedürftigen Kind zum selbstbewusst handelnden Erwachsenen. Im gemeinsamen Spielen, Lernen und Arbeiten – in ihrem historischen Werdegang – erwerben Menschen immer mehr Kenntnisse. Sie werden befähigt sich als bio-psycho-soziales Wesen zu begreifen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und die Wirklichkeit in ihrer Schönheit zu bewahren. Kurzum: Der Mensch wird mittels der Natur- und Technikwissenschaften zur Produktivkraft.
Humane Daseinsbedingungen sind in zunehmendem Maße nur durch das aktive Wirken, durch die organisierte und koordinierte Teilhabe vieler (wenn nicht aller) Menschen zu realisieren.
Wissenschaft kann neue Möglichkeiten erschließen, um Gefahren abzuwenden, alternative Lösungen zu finden und sozialen Fortschritt zu befördern. Das erfordert aber – den vielfältigen Erwartungen und Erfahrungen, aber auch den Hoffnungen und Ängsten aller Betroffenen Rechnung tragend – Humanität und Akzeptanz der Wissenschafts- und der darauf basierenden Technikentwicklung zu garantieren.
Überaus viele Inhalte im Sinne gesellschafts- und naturwirklicher Notwendigkeiten gilt es, von Natur-, Technik- und Gesellschaftswissenschaftlern zu durchdenken, zu diskutieren und zu bearbeiten, um das produktive Potential der Wissenschaft zu erschließen, nämlich:
- Die Versorgung der Menschen mit Nahrungsgütern und der Industrie mit Rohstoffen,
- die Verhältnismäßigkeit zwischen Ökonomie und Ökologie,
- die Erhaltung und Förderung der Gesundheit der Menschen,
- die biotechnologische Produktion von Pharmaka und anderer bioaktiver Verbindungen,
- die Entwicklung und bedarfsgerechte Herstellung von Plast-, Elast- und Sonderwerkstoffen mit speziellen Eigenschaften für die Anwendung in Hochtechnologien,
- die Veredlung von Rohstoffen und Sekundärrohstoffen,
- die Schaffung produktarmer Technologien und geschlossener Stoffkreisläufe,
- die Fernerkundung der Erde und die Meeresforschung,
- die Nutzung von Erdeigenschaften,
- die Deponie von Abfällen in der Erdkruste,
- die Entwicklung von hocheffektiven Rechnern und künstlicher Intelligenz,
- das Nutzbarmachen von Erkenntnissen der Grundlagenforschung,
- die Anwendung von Wissen aus der Festkörperphysik, der Opto– und Quantenelektronik und der Mikroelektronik,
- die Entwicklung neuer Treibstoffe, von Kraftwerken und neuartigen Motoren und Sensoren
und vieles andere mehr.
Die Logik des Profits
HIV versetzte in den 1980er Jahren die Menschen in Angst und Panik, heute wird dies erledigt durch COVID-19. Das HIV-Virus, das zur Zerstörung des Immunsystems führen kann, existiert immer noch und fordert Opfer – besiegt ist weder HIV-Virus noch die AIDS-Erkrankung. Dies mag am Stand der Wissenschaft und Forschung liegen, vielleicht auch an den Grenzen medizinischer Behandlungskunst.
Ein ökonomischer Aspekt ist immer zu berücksichtigen: Im alles beherrschenden und alles durchdringenden Wirtschaftssystem, wird alles zur Ware, ist alles Ware: Auch die Medizin und die Gesundheit der Menschen.
Am Profit orientierte Wirtschaftsgefüge, die ins Gesundheitswesen eingebettet sind, können aus betriebswirtschaftlicher Sicht kein Interesse daran haben, jene Probleme, die die Gesundheit und das körperliche Wohlbefinden beinträchtigen, kausal zu lösen; sie also ein für alle Mal zu beseitigen. Denn dadurch würde zum Beispiel die Produktion und Konsumtion von Medikamenten gedrosselt beziehungsweise überflüssig gemacht, was die Möglichkeit verringert, Profit zu machen.
Im Meer der schier endlosen Beiträge, die sich im 20. Jahrhundert mit HIV beschäftigten, ist auch folgender Textauszug zu entdecken:
“Trotz weltweiten Wettrüstens und neuer Krisenherde macht man sich in den westlichen Gesellschaften zu Beginn der 80er Jahre mehr Gedanken um die immer umfangreichere Freizeit als um eine sichere Zukunft. Der Schock trifft die saturierte Gesellschaft dann auch nicht wegen der Stationierung von Mittelstreckenraketen, Falklandkrieg oder Hungerkatastrophe in Äthiopien, er kommt vielmehr aus der Medizin und hat nur vier Buchstaben: Aids. Die neue Geißel der Menschheit verlockt die Medien zunächst zu unkontrollierten Spekulationen und zu Kampagnen, die unter dem Vorwand der Aufklärung und Vorbeugung zur Verunsicherung beitragen. Selbst seriöse Magazine greifen begierig jede Prognose auf und malen ihr Menetekel für die Menschheit an die Wand.”
Nachdem die Wissenschaft eindeutig nachgewiesen hatte, dass die Ansteckung mit HIV nur über Blut – vor allem beim gemeinsamen Benutzen von Spritzen beziehungsweise Nadeln beim Drogenkonsum – und Körpersekrete beim Geschlechtsverkehr erfolgt, und die Zahl der infizierten heterosexuellen Personen bis Ende des Jahrzehnts ständig stieg, begann eine in dieser Form nie für möglich gehaltene öffentliche Debatte um das Sexualverhalten. Restriktive Maßnahmen riefen dagegen nicht gerade Begeisterung hervor, weil Beobachter Ende des Jahrzehnts glaubten, zumindest für die Bundesrepublik bilanzieren zu können, dass der vorsichtigere sexuelle Umgang erste Erfolge zeige. Denn während es in Afrika bis zu zehn Millionen infizierte Personen gab, lag die Zahl der registrierten Erkrankungen Ende 1988 bei überschaubaren 5109. Die Anzahl der gemeldeten HIV-Infektionen wurde Ende 1989 mit 37.091 angegeben [2].
Wenden wir an dieser Stelle den Blick auf eine wesentliche Problematik, die nichts mit der Art der Erkrankung oder Behandlung zu tun hat:
Kapitalwirtschaftlich konkurrierende Unternehmen sind prinzipiell dazu stimuliert, therapeutische Lösungen zur symptomatischen Behandlung und lindernden Intervention zu konzipieren – und sich die dazu notwendigen produktionsvorbereitenden Aufwendungen vorfinanzieren zu lassen.
Investitionen in Forschungsprogramme, die kausale Problemlösungen erbringen könnten, können mangels Garantie für das Einlösen finanzieller Verbindlichkeiten an Kreditinstitute kaum getätigt werden. Dies gilt nicht nur für Fragen, die die Gesundheit des Menschen betreffen, sondern für die Grundlagenforschung insgesamt. Kapitalistisches Wirtschaften ist somit final nicht in der Lage, die für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte notwendigen Erkenntnisse zu gewinnen und sie nutzbringend zu verwenden.
“Tschüss, ihr da oben”
Der Journalist Peter Zudeick stellte in seinem 2009 veröffentlichten Buch “Tschüss, ihr da oben”, ein Titel, der das Ende des Kapitalismus behandelt, folgende Frage in den Raum:
“Reicht es denn nicht allmählich mit dem systematischen Gemurkse, das uns schon so lange Zeit ‘die da oben’ – die Wirtschaftsbosse, die Politiker, der ‘Staat’ – als Normalität verkaufen. […] Und ist jetzt nicht, wie so häufig in den vergangenen Jahrhunderten, die Zeit gekommen, Tschüss ihr da oben zu rufen und die Sache wieder selbst in die Hand zu nehmen.”
Zudeick versäumt es nicht, die Berechtigung von Fragestellung und Anliegen zu verdeutlichen. Zum Beispiel stellt er dar, dass eines der elementarsten Probleme, die die Kluft zwischen armen und reichen Ländern kennzeichnet, der Hunger ist.
“Täglich verhungern weltweit 50 000 Menschen, vor allem Kinder. Dabei könnten sie alle satt werden. Allein die Menge des weltweit geernteten Getreides könnte die Weltbevölkerung ernähren. Aber Getreide wird in den Industrieländern vorzugsweise als Viehfutter verwendet. Und in den reichsten Ländern verbrauchen die Menschen vierhundertmal soviel wie die in den ärmsten.”
Anfang des Jahres 2008, als die große Wucht der Finanzkrise allenfalls zu erahnen war, habe eine Nahrungsmittelkrise den Globus heimgesucht.
“Mais, Weizen, Reis wurden plötzlich sprunghaft teurer. Der Preis für Reis stieg in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince um fast 80 Prozent.” Hungerrevolten seien die Folge gewesen, nicht nur in Haiti. Auch im Senegal in Burkina Faso, Mauretanien und Kamerun seien die Menschen auf die Straße gegangen. “Ein Grund für die Preisexplosion waren Spekulationen an der Board of Trade in Chicago, der einzigen Terminbörse, an der Reis gehandelt wird. Der Kapitalismus ist nicht gerecht, er will es nicht sein. Kann es nicht sein wollen”, müsse man genauer sagen, stellt Peter Zudeick auf der Rückseite seiner Buches fest [3].
Die profitorientierte Wirtschaft abschaffen
Alles, was gegenwärtig in der Weltgesellschaft passiert, wird durch profitorientiertes finanzwirtschaftliches Kalkül bestimmt. Darum heißt es für alle mit Verstand im Kopf und Herz im Leib dagegen aufzubegehren – die Sache selbst in die Hand zu nehmen, damit künftig nicht mehr die Gier nach geldwertem Vorteil das alles Bestimmende ist, sondern dass die Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse und die Verbesserung der Lebensqualität aller Menschen die treibenden Handlungsmotive in unserem Zusammenleben werden.
Die Lösung der Probleme, die sich aus dem kapitalistischen Wirtschaften ergeben, kann nur durch bewusstes Umgestalten der Produktionsverhältnisse, also durch politisches Handeln erfolgen, in dem nach dem Begreifen der Notwendigkeiten gesucht, das Befriedigen wahrhaftiger Bedürfnisse erstrebt und das Bewahren der Wirklichkeit gewollt werden.
Der Mensch entwickelt sich aus seinem ursprünglichen den Naturgesetzen hilflos ausgelieferten Dasein zum selbstbewussten befähigten Gestalter seiner Wirklichkeit: es ist der oben genannte Wandel vom Natur-Wesen zum Kultur-Wesen.
Den Stand der Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen die Menschen gegenwärtig existieren, progressiv bewertend, lässt sich feststellen:
- Wenn durch die ständige Entwicklung der Produktivkräfte erreicht wird, dass Energiequellen, die die ökologischen Kreisläufe und somit auch unser menschliches Dasein nicht gefährden, entsprechend des Bedarfs aller Menschen erschlossen werden und wenn
- sehr lange gebrauchsfähige, qualitativ hochwertige Materialien und zur kausalen Problemlösung geeignete Wirkstoffe für jeden zur Verfügung gestellt werden können,
ist profitorientiertes Wirtschaften nicht mehr notwendig, braucht das Gieren nach geldwertem Profit nicht mehr die treibende Kraft der gesellschaftlichen Bewegungen zu sein.
Es müssen Produktionsverhältnisse gestaltet werden, die das Erstreben befriedigender und bewahrender Nützlichkeit als treibendes Handlungsmotiv der Menschen ermöglichen. Das Produzieren, Verteilen, Austauschen, Konsumieren und Reproduzieren muss sowohl befriedigend für jeden Einzelnen sein, als auch im Einklang mit dem notwendigerweise zu erhaltenden Stoff-, Energie- und Informationswechsel der objektiven Wirklichkeit geschehen.
So wie das von Kapitalakkumulation stimulierte Wirtschaften die Beschränkungen feudaler Besitzstrukturen überwinden, die Position der darin erstarrten Naturalwirtschaft verlassen – also die feudalen Produktionsverhältnisse beseitigen – musste, um unter neuen gesellschaftlichen Verhältnissen die Produktivkräfte in vorher nicht zu erahnenden Ausmaßen zu dynamisieren und die Menschen auf eine weitaus höhere Kulturstufe zu heben, muss heute diese zur kapitalistischen Position gewordene Negation feudalistischen Wirtschaftens neuerlich negiert, umgestaltet, zu neuen Gesellschaftsverhältnissen erhoben werden.
Dies ist zwingend erforderlich, um die Entwicklung der Produktivkräfte in einer für die Menschen und die Natur notwendigen Weise zu ermöglichen, aus der sich Lösungen für die weltweit anstehenden – nur oberflächlich verschieden erscheinenden, aber auf den gleichen Ursachen beruhenden – sozialen und ökologischen Probleme schöpfen lassen.
Position, Negation sowie Negation der Negation
Negation der Negation – das heißt, Aufhebung von etwas durch etwas Entgegengesetztes, ist ein objektiv wirkendes, allgemeines Grundgesetz der Dialektik, dem zufolge die Entwicklung alles Seienden als ständige Aufhebung bestehender Qualitäten so vor sich geht, dass eine aufgehobene Qualität eine erneute Aufhebung erfährt und die Entwicklung somit wesentliche Seiten der ursprünglichen Qualität auf höherer Ebene gleichsam wiederholt.
Die Auffassung der Negation der Negation als allgemeine dialektische Gesetzmäßigkeit geht auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel zurück, der dieses Gesetz als das Grundgesetz der Dialektik schlechthin betrachtet. Es durchzieht sein System als leitendes und richtunggebendes Motiv. Hegel sieht so die Bewegungsvorgänge des sich entwickelnden Seins als ein System ineinander geschachtelter Triaden; bestehend aus Position, Negation und Negation der Negation.
Auch der nur in Gesellschaft lebend mögliche, durch biotische Gesetzmäßigkeiten materiell inkarnierte, das Sein reflektierende, zu gewolltem Eingreifen befähigte, individuell eigenartig wirkende Mensch kann sich lediglich dialektisch determiniert mit seiner ihn bestimmenden Wirklichkeit stoff-, energie- und informationswechselnd entfalten und entwickeln – dieses Verständnis führt zur Zielsetzung: Die profitorientierte Wirtschaft abschaffen.
Quellen und Anmerkungen
[1] Johann Wolfgang Goethe: Faust. Der Tragödie Zweiter Teil (Reclam Verlag; Leipzig 1945). ↩
[2] Chronik ’91: Vollständiger Jahresrückblick in Wort und Bild (Chronik Verlag; Dortmund 1991). ↩
[3] Peter Zudeick: Tschüss, ihr da oben. Vom baldigen Ende des Kapitalismus. (Westend Verlag; Frankfurt an Main 2009). ↩
Illustration: Neue Debatte
Frank Nöthlich (Jahrgang 1951) wurde in Neustadt/Orla (Thüringen) geboren. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und sechs Enkelkinder. Er studierte Biologie, Chemie, Pädagogik, Psychologie und Philosophie von 1970 bis 1974 in Mühlhausen. Nach dem Studium war er an verschiedenen Bildungseinrichtungen als Lehrer tätig. Von 1985 bis 1990 war er Sekretär der URANIA-Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse. Später arbeitete er als Pharmaberater und ist heute Rentner und Buchautor (www.briefe-zum-mensch-sein.de). Er sagt von sich selbst, dass er als Suchender 1991 in der Weltbruderkette der Freimaurer einen Hort gemeinsamen Suchens nach Menschenliebe und brüderlicher Harmonie gefunden hat.