Manchmal führt die Erinnerung an bedeutende Werke dazu, dass man dazu geneigt ist, einen Autor oder eine Autorin darauf zu reduzieren. Wenn der Name Pjotr Alexejewitsch Kropotkin fällt, dann haben viele Menschen, die sich mit Politik und Geschichte befassen, gleich die Titel einiger Werke im Kopf, für die heute der Name des russischen Wissenschaftlers, Politikers und Schriftstellers steht.
Anarchismus
Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt; Die Eroberung des Brotes; Die große französische Revolution – Das sind Marksteine in einer politischen Theorie, die den Namen Anarchismus trägt.
Die großen Namen, die diese politische Bewegung hervorgebracht und die das despotische Regime des russischen Zarismus herausgefordert hat, sind Alexander Herzen, Michail Bakunin und Pjotr Alexejewitsch Kropotkin.
Eher durch einen Zufall stieß ich auf die Memoiren Kropotkins, die in zwei kleinen Bänden und lediglich elektronisch erschienen sind – und zudem noch kostenfrei zu lesen waren. Letzteres wahrscheinlich nicht, weil ein amerikanischer Global Player für den Anarchismus werben wollte, sondern weil sich die enzyklopädischen digitalen Buchanbieter alles einverleiben, was sie bekommen können.
Und weil sie, aus Werbezwecken, manchmal auch etwas unter das Volk werfen, um ihr Vorgehen sozial erscheinen zu lassen.
Distanziert und entspannt
Wie dem auch sei: Kropotkins „Memoiren eines Revolutionärs. Erster Band“ erschien auf dem Bildschirm meines Lesegeräts und ich begann, die ersten Sätze zu lesen. Gleich war ich in das Moskauer Marschallviertel in der Mitte des 19. Jahrhunderts versetzt und mir erzählte ein Mann sehr distanziert und entspannt seine Geschichte als Kind und junger Mann jener Zeit. Es ist die Geschichte eines Sprösslings aus dem russischen Offiziersadel; und es entfaltet sich ein Gesellschaftspanorama, das interessant und spannend zugleich ist.
Da geht es um typische Karrieremuster in besagtem Offiziersadel, da geht es um Besitzverhältnisse und Leibeigene, en passent erfährt man vom ersten Krimkrieg, vom polnischen Aufstand, von einem Zaren, der die Leibeigenschaft abschaffen will, sich jedoch vom Adel immer weiter in eine Phobie bezüglich drohender revolutionärer Tendenzen hochschaukeln lässt.
Kropotkin versteht es, selbst bei Themen wie der Leibeigenschaft, die ihn sehr erregt haben müssen, in einem ruhigen Ton das alles zu erzählen, ohne mit seiner eigenen Position hinter dem Berg zu halten. Dennoch hat man als Leser immer den Eindruck, sich selbst ein Bild machen zu können, um die geschilderten Ereignisse zu bewerten.
Klarheit in Sibirien
Kropotkin selbst kam nach dem privaten Unterricht seiner Kindheit, den er von deutschen, französischen und russischen Lehrern erhielt, auf die Pagenschule in Sankt Petersburg – was als großes Privileg galt. Bei dem Geschilderten wird deutlich, dass ihn jedoch Mathematik, Naturwissenschaften und die Geografie am meisten motivierten und inspirierten und seine Beobachtungen der zaristischen Politik ihn zunehmend vorsichtiger machten bei den Überlegungen zur Planung seines Lebens.
So war es folgerichtig, dass Kropotkin keine Offizierskarriere im strahlend erleuchteten Sankt Petersburg anstrebte, sondern nach erfolgreichem Abschluss der Pagenschule sich für ein Kosakenregiment im fernen Sibirien entschied. Dort verbrachte er drei Jahre und erkundete die dortige Geografie, was Pionierarbeit war, und machte sich ein Bild über die notwendigen Organisationsformen der dortigen Kommunen sowie über die infrastrukturellen Bedingungen und erforderliche Techniken, die die Arbeiten bei diesem großen Explorationsprojekt erforderten.
So präpariert kehrt der junge Mann, der bereits viel gesehen hat, aber erst 26 Jahre alt ist, zurück nach Sankt Petersburg, wo die politische Reaktion herrscht. Die politischen Verhältnisse veranlassen Kropotkin, den Militärdienst zu quittieren. Damit endet der erste Band – und es ist keine Spekulation, dass der zweite weitaus politischer sein wird.
Informationen zum Buch
Memoiren eines Revolutionärs (Band 1)
Autor: Pjotr Alexejewitsch Kropotkin
Genre: Roman
Sprache: Deutsch
Seiten: 248
Veröffentlichung: 2002 (Original: 1899)
Verlag: Unrast Verlag
ISBN: 978-3-89771-901-9
Illustration und Video: Neue Debatte und Gerhard Mersmann
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.