Gestern sprach ich mit jemandem, den ich seit vielen Jahren kenne und mit dem ich immer wieder beruflich zu tun hatte. Nachdem wir feststellten, dass wir uns für viele Fragestellungen gesellschaftlicher wie kultureller Art gleichermaßen interessierten, wurde daraus auch ein privater Kontakt. Wir tauschten uns öfters aus und hatten angeregte, uns gegenseitig inspirierende Diskussionen. Er wurde im benachbarten Ausland von dem Auftauchen des Corona-Virus und dem folgenden Lockdown erwischt.
Neue Bewegung oder Depression
Schnell nutzten sowohl er als auch ich die Möglichkeiten der digitalen Kommunikation. Und ebenso schnell sprachen wir über die Perspektiven, die sich nach der Krise bieten könnten. Folglich machten wir Entwürfe, produzierten Podcasts, versuchten andere in die Diskussion miteinzubeziehen. So eigenartig es klingt, es entstand bei ihm wie bei mir eine Art Aufbruchstimmung, auch wenn es ein durchaus bekanntes Phänomen ist, dass wissenschaftlich beschrieben ist:
Menschen reagieren unterschiedlich auf Krisen, die einen fallen in den Zustand der Erstarrung und schleichen im Vorhof der Depression herum, andere wiederum werden hyperaktiv und beeindrucken sich selbst durch ihre Euphorie. Während die ersteren nach einer Weile ihre Lebensgeister zurückgewinnen und so langsam in einen neuen Bewegungsmodus kommen, fallen letztere dann, wenn die Euphorie sich nicht auf ihre Umwelt übertragen hat, ihrerseits in einen depressiven Zustand, oder zumindest in den einer tiefen Enttäuschung.
Als wir gestern sprachen, neigten wir dazu, uns beide dieser erst euphorischen und dann enttäuschten Gruppe zuzurechnen, weil von der anfänglichen Aufbruchstimmung nicht mehr viel zu verspüren war. Die vielen Ansätze, über die wir anfänglich diskutiert hatten, spielen nämlich in der öffentlichen Debatte um den zukünftigen Kurs von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft kaum noch eine Rolle. Weder ist eine ökologische Wende in Sicht, noch ist festzustellen, dass das Paradigma des Wirtschaftsliberalismus durch ein neues ersetzt wird.
Erst euphorisch, dann zu Tode betrübt
Überall sind die alten Lobbys am Drücker, die Automobilindustrie setzt auf Subventionen für überholte Technologien, insgesamt soll Arbeitsschutz reduziert und sollen Arbeitszeiten ausgeweitet werden, die Tendenz zum Homeoffice wird genutzt, um aus Vollzeitbeschäftigten Teilzeitkräfte zu machen, überall wird rationalisiert, was das Zeug hält, ohne dass dem ein Korrektiv entgegenstünde – von überall her tönt es, erstmal sei es wichtig, die Wirtschaft zum Laufen bringen, dann käme das andere.
So sahen wir das gestern, und, wohl zum eigenen Schutz, führten wir die Sichtweise auf unsere Zugehörigkeit zu dem beschriebenen Phänomen der Krisenreaktion zurück: erst euphorisch, dann zu Tode betrübt. Andernfalls, so mein Gesprächspartner, hätten wir es jetzt mit einem revisionistischen Debakel zu tun, dass nicht auszuhalten wäre.
Unser Feld ist die Welt
Mein Counterpart ist übrigens immer noch im Ausland und ich habe so langsam das Gefühl, dass er das Exil so langsam zu einem Dauerzustand machen will. Obwohl er weiß, dass die Probleme, vor denen wir stehen, wie die Lösungen, die zu entwickeln sind, keine Grenzen mehr kennen. Zum Schluss trösteten wir uns mit den Worten, die früher an den Landungsbrücken in Hamburg standen und das letzte waren, was die vielen Auswanderer in deutscher Sprache sahen: Der Mensch ist frei und sein Feld ist die Welt.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.