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Meinung

Brasilianischer Totentanz

Das Management der Corona-Epidemie sowohl in den USA wie in Brasilien illustriert, dass die ethische Abwägung staatlichen Handelns keinerlei Verwässerungen unterliegt.

Die Chancen, in Brasilien an einem frühzeitigen Tod zu sterben, standen nie schlecht. Dank einer Kette politischer Ereignisse sind sie jedoch dramatisch gestiegen.

Wer sich ein Bild darüber machen will, was die Macht des Westens anzurichten vermag, wenn er vor Ort die richtigen Kompagnons findet, illustriert dieses Land. Es stellt sich die Frage, ob Brasilien es jemals geschafft hat, sich aus der kolonialen Abhängigkeit zu befreien.

Die weißen Nachkommen der europäischen Kolonisten standen schnell in regem Verkehr mit den USA, wenn man so will, die natürliche Nachfolge des niedergegangenen romanischen wie angelsächsischen Kolonialismus. Sowohl die Ureinwohner des großen brasilianischen Areals wie die aus Afrika herbeigeschafften Arbeitssklaven, die übrigens das Zehnfache derer ausmachten, die in die USA verschleppt wurden, förderten Reichtum gewaltigen Ausmaßes ans Tageslicht, von dem bis heute ihre jeweiligen Nachkommen nichts gesehen haben.

Mit allen Mittel gegen Veränderungen

Historische Parallelen sind immer ein beredsames Indiz für Strukturen, die sich gehalten haben. In Brasilien ist es die Affinität zu den jeweils herrschenden Kreisen in den USA und die wiederholte Übernahme eines vom amerikanischen Geheimdienst entwickelten Systems des Regime Change.

Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts funktionierte es genauso wie heute. In der Regel wird der politisch als gefährlich eingestuften Gegenseite, was zumeist die Linke ist, ein Putschplan unterstellt oder, wenn die sich durch gezielte Provokationen nicht hinreißen lässt, ein fingierter Putsch von Schachfiguren inszeniert, die dann durch das Militär liquidiert und als Opfer der Linken deklariert werden. Letzteres übernahm die Macht und sorgte dafür, dass Gold, Holz und Fleisch in ausreichendem Maße gefunden, gefällt und produziert wurde, um das Land dann so schnell wie möglich zu verlassen, ohne dass die eigene Bevölkerung etwas davon gehabt hätte.

“Alles, was Gewinn und Rendite schadet, wird vermieden, es herrscht das privatwirtschaftliche Kalkül in absoluter Form.”
Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt das Duplikat. Durch demokratische Wahlen hatten es ein linker Gewerkschafter und eine Widerstandskämpferin bis ins Präsidentenamt geschafft. Beide wollten die Verhältnisse nachhaltig zugunsten der eigenen Bevölkerung ändern. In beiden Fällen folgte kein Militärputsch, sondern eine von einer korrupten Justiz formulierte Anklage wegen Korruption und Vetternwirtschaft. In beiden Fällen wurden die demokratisch Legitimierten aus dem Amt gejagt, und in beiden Fällen stellte sich schon bald danach heraus, dass Anklagen wie Verurteilungen absurd waren.

Doch konnte die Stimmungslage in dieser Zeit dazu genutzt werden, einem populistischen Kandidaten eine Mehrheit zu verschaffen, der sich recht unverfroren als Bestattungsunternehmer des Landes beworben hatte. Seit er im Amt ist, gibt es kein Halten mehr und die Art der Amtsführung ist wie eine zeitgenössische Inszenierung des historischen Kolonialismus [1].

Der Regenwald wird abgeholzt und fortgeschafft, alles wird Weideland oder, wo möglich, wird nach Edelmetallen geschürft, Umweltgesetze wurden außer Kraft gesetzt, genauso wie tariflich durchgesetzte Bezahlung und Arbeitsschutz, eine Militarisierung des Staates schreitet voran, der Einsatz von Gewalt gegen Andersdenkende ist zur Regel geworden. Wer in diesem Kontext auf den Gedanken kommt, die Blaupause hierfür sei einige tausend Kilometer nördlich zu beobachten, liegt nicht ganz falsch.

Der Totentanz

Konkret, wie bei einem Brandbeschleuniger, illustriert das Management der Corona-Epidemie sowohl in den USA wie in Brasilien, dass die ethische Abwägung staatlichen Handelns keinerlei Verwässerungen unterliegt. Alles, was Gewinn und Rendite schadet, wird vermieden, es herrscht das privatwirtschaftliche Kalkül in absoluter Form, jede volkswirtschaftliche Erörterung wird als kommunistisches Umsturzansinnen verleumdet und verfolgt.

In den USA hat ein alltäglicher Übergriff gereicht, um die soziale Schieflage durch Massenproteste zumindest wieder ins Bewusstsein zu bringen. In Brasilien, das unter atemberaubenden Infektionszahlen leidet, hat der Präsident angeordnet, diese nicht mehr zu veröffentlichen. Der brasilianische Totentanz ist in vollem Gange. Dem Rest der Welt kann aufgrund der Wirkung des Musters wie der ökonomischen und ökologischen Dimension dieses infernalische Treiben nicht gleichgültig sein.


Quellen und Anmerkungen

[1] Frankfurter Rundschau (12.6.2020): Brasilien: Wenn Bolsonaro so weitermacht, sind wir alle bedroht. Auf https://www.fr.de/meinung/brasilien-beistehen-wenn-bolsonaro-weitermacht-sind-auch-bedroht-13793038.html (abgerufen am 12.06.2020).


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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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