Das kollektive Gedächtnis des afrikanischen Kontinents schreibt eine seltsame Geschichte. Was mit der Entwicklung des Homo sapiens und einigen Hochkulturen begann, mündete in ein Verhängnis nach dem anderen.
Irgendwann tauchten an den Küsten Barbaren auf, die nach Schätzen suchten, die sie auch fanden. Dann schleppten sie, nicht ohne Hilfe aus dem eigenen Kontinent, Legionen von Menschen nackt und in Ketten auf Schiffe und verkauften sie anderswo als Arbeitssklaven, und die, die auf der Reise verendeten, warf man ins Meer.
Die Barbaren bemächtigten sich vieler Länder des Kontinents, und sie systematisierten die Schatzsuche, organisierten die Bergung der gefundenen Ressourcen, und machten aus den Freien, die nicht verschleppt worden waren, Sklaven im eigenen Land. Und irgendwann gedachten die Vielen, die das alles nicht verstehen wollten, ihrer selbst und vertrieben die Barbaren. Und es folgten manchmal Gute, und manchmal Schlechte, die das Land regierten.
Die weißen Barbaren
Eigenartigerweise unterstützen die vertriebenen Barbaren die Schlechten und bezahlten andere Schlechte dafür, die Guten zu meucheln. Mit den Schlechten machte man fürderhin glänzende Geschäfte. Die alten Barbaren waren weg, aber das Elend war geblieben. Und manche Junge, die das nicht mehr hinnehmen wollten, entschieden sich, nicht zu kämpfen, sondern zur Flucht. Sie trieb es in die Länder, wo die Barbaren auf den Schätzen saßen und Fett ansetzten.
Manche schafften es dennoch. Andere scheiterten schon auf dem Landweg, sie wurden von Schergen niedergestreckt, die im Auftrag der besorgten Barbaren handelten, mit Waffen, die die Barbaren geliefert hatten. Und wieder andere fanden den Tod auf dem Meer, sie kenterten in überfüllten, schlechten Booten, während die stolzen Schiffe der Barbaren aus der Ferne zusahen.
“Black lives matter!”
Die letzten Szenen, die aus dem dem kollektiven afrikanischen Gedächtnis zitiert wurden, sind brandaktuell. Und sie mögen präsent sein, wenn wir auf unseren Straßen einer Bewegung begegnen, die sich engagiert unter dem Slogan „black lives matter!“ zusammengefunden hat.
Dort, von wo der Protest ausgeht, macht der Slogan einen Sinn. Wenn auf den Straßen Nordamerikas Schwarze durch Polizeigewalt ums Leben kommen, dann muss dagegen aufbegehrt werden und es muss Konsequenzen haben. Den Aufschrei hier, in der Bundesrepublik Deutschland zu kopieren, ist an Verlogenheit und Doppelmoral aber nicht zu überbieten. Wobei allen, die guten Glaubens und guten Willens sind, dieses nicht abgesprochen werden soll.
Nur, die Verhältnisse sind hier anders. Zur gleichen Zeit, in der man sich hier für die schwarzen Brüder und Schwestern in den USA engagiert, krepieren Afrikanerinnen und Afrikaner in Schlauchbooten auf dem Mittelmeer, während andere in libyschen KZs sitzen, die aus europäischen Geldern finanziert wurden und mit deutschen Waffen bewacht werden.
Black lives matter? Bitteschön, dann klagt die deutsche Außenpolitik an, die einen Regime Change nach dem anderen gebilligt und unterstützt hat. Es soll etwas gegen Polizeigewalt, Diskriminierung und die Bedrohung von Leib und Leben geschehen? Dann setzt die unter Druck, die die Morde an türkisch-stämmigen, kurdisch-stämmigen, afrikanischen und asiatischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern nicht oder nur unzureichend geahndet haben!
Alles, was in der Ferne liegt, ist, folgt man der weißen Logik, eine feine Sache. Da kann man sich engagieren und wohlfühlen, ohne Risiken einzugehen. Die Amerikanerinnen und Amerikaner, die jetzt in den Metropolen ihres Landes aufbegehren, sie riskieren zumeist alles: ihre soziale Existenz, ihre Freiheit und manchmal sogar das Leben. Hier kostet es nichts. Europa schirmt sich ab, lässt Menschen im Meer ersaufen, reklamiert seine Werte und fühlt sich gut. Weiße Logik! Schlechte Manieren!
Reden wir miteinander
Haben Sie Fragen an den Autor? Bitte schreiben Sie uns!
HINWEIS: Bitte beachten Sie unsere Informationen zum Datenschutz.
Illustration: Neue Debatte
Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.
2 Antworten auf „Die weiße Logik: Black lives matter ohne Risiko“
genau so, lieber herr mersmann, ist es !
ich kenne aus eigener anschauung die verhältnisse in kolumbien, peru, und ecuador, was dort so an albtraumartigem abgeht, da macht man sich hierzulande keine vorstellung.
es ist sehr leicht (und “kostenlos”), für oder gegen alles mögliche zu protestieren, wenn man selbst auf der insel der glücklichen sitzt, die selbst nicht betroffen ist, während es andernorts, möglichst weit weg vom heimischen herd, grausamst zu sache geht.
und das wirklich dumme ist: wir sind alle mit daran schuld, sind direkt oder indirekt daran beteiligt, zb durch unseren ressourcenverbrauch …
was wollen Sie tun?, was schlagen Sie vor, dies zu ändern ???
Wen hat es schon groß interessiert, als Uncle Sam Uncle Toms Hütten niederbrannte und mit Hilfe der europäischen Handelschiffe Millionen Menschen verschleppte, um sie gewinnbringend an Sklavenhalter in der „neuen freien Welt“ zu verhökern?
Selbst unter Obama, der die meisten Kriege gegen seine Brüder und Schwestern in Afrika führte, gab es Rassenunruhen im eigenen Land, die mit der Nationalgarde niedergestreckt wurden. Weshalb nur werden diese Menschen immer noch beleidigt durch die Stigmatisierung Afroamerikaner? Sind sie nicht längst schon Amerikaner und sollten auch dieselben Rechte und Privilegien genießen? – Obwohl es immer fragwürdiger scheint, sich als Amerikaner „zu outen“.
Aber es ist einfach mit dem Finger darauf zu zeigen, während wir europäischen Kolonialisten weiterhin Kriege führen, gegen Menschen die immer noch als Sklaven behandelt werden, vereint in einem NATO-Schreckensbündnis. Und als Krönung weiterhin verhöhnt werden unter der Flagge „Black Lives Matter“, um weiße Profilneurosen nicht nur am Black Friday aufzupolieren.
Zu All Lives Matter, ohne Stigmatisierung und Diskriminierung, ist es noch ein sehr langer Weg, denn nach der „neuen freien Welt“, nach deren Pfeife wir tanz(t)en und uns selbst zu Sklaven mach(t)en, binden wir uns gerade wieder mal an eine politisch korrekte, verlogene „neue Normalität“.