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Die Krise bleibt, der heiße Sommer kommt

Wird das staatliche Gewaltmonopol durch praktisches Handeln in Frage gestellt, kann getrost von einer gefährlichen Krise gesprochen werden.

Es bleibt dabei: Krisen haben auch etwas Gutes. Wenn das Gelobte darin besteht, zu schmerzhaften Erkenntnissen zu gelangen, klingt das zwar frivol, aber ändern tut es nichts.

Im Brennglas

Wir sehen manches, das vorher schon da war, aber irgendwie unter der Oberfläche schlummerte. Oder es schien nie so wichtig, als dass es hätte thematisiert werden müssen. Nun, im Augenblick der Krise, kommt alles ins Brennglas.

Plötzlich erscheint vieles von dem, was schon lange in seiner Form so existiert, auf keinen Fall mehr tragbar, weil brandgefährlich, oder einfach schreiend ungerecht oder schlichtweg unentschuldbar vernachlässigt – oder auch strunz dumm, zum Schämen strunz dumm. Um mit Letzterem zu beginnen: Dass man hierzulande Politikerinnen und Politiker kaufen kann, ist keine neue Erkenntnis. Das war schon immer so und ist ein Systemfehler. Ein politisches System allerdings, dass das duldet und dagegen nichts unternimmt, darf sich nicht wundern, wenn sich allein aufgrund der Käuflichkeit irgendwann die Systemfrage stellt.

Dass es nun, in der Krise, so aufschlägt, hat einerseits mit der tatsächlich wachsenden Not vieler Menschen in diesem Land zu tun und andererseits beschreibt es gleichzeitig die Frivolität einer nachwachsenden, nahezu identisch sozialisierten Politikergeneration.

Der letzte Funke

Der stolze Kranich, so die Medien, soll wieder fliegen. Die staatliche Subvention mit den zweifachen Mitteln des Unternehmenswertes lässt aufhorchen [1]. Was macht ein Unternehmen, das im Service den Charme einer früheren DDR-Grenzpatrouille versprüht und beim Preis eher an einen Escort-Service erinnert, so wichtig?

Die gesamte Kulturindustrie, in der circa zwei Millionen Menschen beschäftigt sind und die erheblich zum Bruttosozialprodukt wie zum gesellschaftlichen Wohlbefinden beiträgt, wurde dagegen restriktiv abgespeist und den Hunden zum Fraß vorgeworfen. Es wird sich zeigen, was Relevanz ist. Es existieren nämlich zwei: eine des Systems und eine der Gesellschaft. Glücklich sind die Zeiten zu nennen, in denen beide identisch sind. Im Moment klaffen sie eher auseinander.

“Die Krise bleibt, der Sommer kommt. Für wen wird es der letzte sein?”
In Stuttgart tobte der Mob [2, 3]. Wenn das staatliche Gewaltmonopol durch praktisches Handeln in Frage gestellt wird, dann kann getrost von einer gefährlichen Krise gesprochen werden. Nachrichten aus Ländern, die uns in der jüngeren Geschichte nahe standen, Frankreich und die USA, in denen diese Frage auf der Tagesordnung steht, kamen hier erst gar nicht an.

Wer fürchtet, dass ein Funke überspringen kann, tut alles, um dieses zu vermeiden. Und dann kam es doch, allerdings ohne jedes politische Motiv, sondern, sagen wir es einmal eher in soziologischer Terminologie, aus mangelnder gesellschaftlicher Kohärenz.

Der mentale Zusammenhang der Gesellschaft scheint, wie nicht nur die Randale in Stuttgart dokumentiert, nicht mehr gegeben. Von allen, deren Geschäft die Politik ist, wurden – bis auf Ausnahme der ewigen, auf den Sündenbock setzenden Hetzern – keine Erklärungen abgegeben. Sie konnten es nicht, dafür verurteilten sie das Geschehene unisono. Das kann man machen, schafft aber bei denen, die aus dem mentalen Zusammenhalt bereits entflogen sind, keine neue Basis. Es ist nicht einfach, aber so einfach, wie es viele aus dem politischen Gewerbe darstellen, ist es auch nicht.

Die Krise bleibt

Kommen wir zur Terminologie der Straße: Schweinepest, Schweinesystem, Schweinerei. Was sich – im Kontext der Infektionskrise – aus dem Ostwestfälischen offenbart, ist das System aktueller Sklaverei, das nicht nur den von seinem eigenen Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 7 Milliarden Euro als Familienunternehmen faselnden Mann zum Skandal macht, sondern alle. Alle haben es gewusst: die Täter, die Behörden, die Gewerkschaften.

Das Fleisch auf dem Tisch, an dem sich die Gesellschaft delektiert, kommt aus der Sklavenwirtschaft. Und diese wird erst thematisiert, wenn Infektionsgefahr auf den Rest des Volkskörpers übergeht. Die Krise zeigt, es gibt noch einen gesellschaftlichen Konsens. Dass dieser sich auf eine Schweinerei bezieht, macht es nicht appetitlicher.

Die Krise bleibt, der Sommer kommt. Für wen wird es der letzte sein?


Quellen und Anmerkungen

[1] CICERO (27.5.2020): Milliardenhilfen für die Lufthansa – Der harte Kampf um Gegenleistungen. Auf https://www.cicero.de/aussenpolitik/milliardenhilfen-lufthansa-eu-kommissarin-vestager-bruessel-air-france (abgerufen am 23.6.2020).

[2] Kurier (23.6.2020): Ausschreitungen in Stuttgart – Verdächtige in U-Haft. Auf https://kurier.at/chronik/welt/ausschreitungen-in-stuttgart-verdaechtige-in-u-haft/400949021 (abgerufen am 23.6.2020).

[3] Lower Class Magazine (21.6.2020): Stuttgart: Wir sehen genau, bei welcher Gewalt ihr schreit. Auf https://lowerclassmag.com/2020/06/21/stuttgart-wir-sehen-genau-bei-welcher-gewalt-ihr-schreit/ (abgerufen am 23.6.2020).


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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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