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Appeal to Reason: Der Kapitalismus und das Fleisch

Wenn die Preise erst einmal steigen, wird vielleicht auch dem letzten Trottel deutlich, dass Deutschland zu einem Billiglohnland degeneriert ist.

Im Jahr 1904 beauftragte Fred Warren [1], der Herausgeber der sozialistischen Zeitschrift “Appeal to Reason”, einen gewissen Upton Sinclair [2] damit, etwas über die Zustände in der Chicagoer Fleischindustrie zu schreiben. Sinclair machte sich auf den Weg und nahm die Union Stock Yards, eine Konservenfabrik mit 20.000 Beschäftigten, unter die Lupe.

Der Dschungel

Er sprach mit Arbeiterinnen und Arbeitern, die vorwiegend Immigranten aus dem Baltikum waren. Was er erfuhr, war niederschmetternd. Die Bezahlung war miserabel, das Arbeitstempo höllisch, die ewige Kälte unerträglich, die Sicherheit ein Witz und die Hygiene verdiente den Namen nicht.

Sinclair begann ein Journal zu schreiben, das er in eine Romanhandlung kleidete. Der Auftraggeber druckte sie als Serie, die auf große Resonanz stieß und 1906 erschien der Roman unter dem Titel “Der Dschungel” als Buch.

Upton Sinclair selbst war es, der dem damaligen amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt ein Exemplar zusandte und ihn bat, etwas gegen die Menschen wie Tiere verachtenden Verhältnisse zu unternehmen. Und tatsächlich folgte eine Einladung Sinclairs ins Weiße Haus.

Appeal to Reason

Die Konsequenz seines persönlichen Berichts war eine vom amerikanischen Präsidenten installierte Untersuchungskommission, die sich nach Chicago begab, um die Sache zu untersuchen. Das erstellte Gutachten hatte tatsächlich Gesetze zur Folge, die sich auf die Hygienebedingungen bezogen und einiges veränderten.

Weder die lausige Bezahlung, noch die erbärmliche Unterbringung, nicht die heikle Arbeitssicherheit und auch nicht die Krankenversorgung der Arbeiterinnen und Arbeiter spielten eine Rolle. Upton Sinclair, auf sein Resümee angesprochen, gab den lakonischen Satz von sich, er hätte an die Herzen appelliert, aber lediglich die Mägen getroffen.

“Schenken Sie dem Gefasel, es handele sich halt um Auftragsfirmen, kein Gehör.”
Ein gut gemeinter Rat: Lesen Sie den Roman, und wenn Sie es vermögen, tun Sie so, als kennten Sie nicht den historischen Kontext. Ersetzen Sie die litauischen Arbeiter durch rumänische und denken Sie geografisch nicht an Chicago, sondern an die ostwestfälische Provinz – machen Sie dabei allerdings nicht den Fehler, die geografischen Bezugspunkte gleich mit zu verdammen. Und Sie werden sehr schnell feststellen, dass zwischen den von Upton Sinclair dargestellten Verhältnissen im Jahr 1905 und den Berichten, die momentan, im Jahr des Herrn 2020, in der Tagespresse zu lesen sind, keine sonderlich großen Unterschiede bestehen.

Und rufen Sie sich dabei ins Gedächtnis, dass es Zeiten gab, die nicht allzu lange zurück liegen, in denen es Gewerkschaften gab, die in der Lage waren, Verhältnisse, wie sie beschrieben sind, zu verändern. Und dann, ich möchte nicht aufdringlich werden, aber ich tue es, stellen Sie sich die Frage, was eigentlich passiert ist, dass Phänomene des frühen Kapitalismus in seiner brachialen Form zum heutigen Alltag der Bundesrepublik Deutschland gehören.

Die dreckigen, elenden, missachteten Arbeiten werden von Menschen aus anderen Ländern verrichtet, die aus den ärmsten Ländern Europas herangekarrt, unterhalb des Mindestlohns bezahlt und wie die vorher massakrierten Schweine untergebracht werden.

Das Leid der Konservenkönige

Und bitte, schenken Sie dem Gefasel, es handele sich halt um Auftragsfirmen, kein Gehör. Das ist so, aber das kann auch verhindert werden. Und, neben denen, die durch ihr direktes Handeln verantwortlich sind, sind es auch die, die die Produkte konsumieren.

Ja, viele könnten es nicht mehr, wenn die Preise stiegen. Und wenn sie steigen, wird vielleicht auch dem letzten Trottel deutlich, dass dieses Land zu einem Billiglohnland degeneriert ist, in dem nicht nur die Rumänen und Bulgaren aus dem Rinnstein auf all den Reichtum starren, sondern auch viele teutonische Konsumenten am Absturz balancieren, während Milliardäre und Konservenkönige lauthals ihr Leid klagen.


Quellen und Anmerkungen

[1] Fred Warren wurde 1872 in Arcola, Illinois, geboren. Mit achtzehn Jahren ging Warren nach Rich Hill, einer Kohlenbergbaustadt in Missouri, und gründete zusammen mit seinem jüngeren Bruder Ben Warren eine Zeitung. 1898 gründete Fred Warren die radikale Zeitschrift “Bates County Critic”. Später wurde er von Julius Wayland angesprochen, um für die sozialistische Zeitschrift “Appeal to Reason” (dt.: Appell an die Vernunft) zu arbeiten. Schon ein Jahr danach wurde Fred Warren geschäftsführender Herausgeber von Appeal to Reason.

Kurz nach dem Tod seiner Frau und mürbe durch eine anhaltende mediale Verleumdungskampagne nahm sich Julius Wayland im November 1912 das Leben. Der neue Eigentümer, Walter Wayland, überwarf sich mit Warren, der im August 1913 von seiner Position zurücktrat. Neuer geschäftsführender Herausgeber wurde Louis Kopelin.

“Appeal to Reason” erreichte 1913 eine Auflage von über 760.000 Exemplaren. Weitere Informationen auf https://spartacus-educational.com/USAwarrenF.htm (abgerufen am 25.6.2020).

[2] Upton Beall Sinclair (1878-1968) war ein US-amerikanischer Schriftsteller. Sein Enthüllungsroman The Jungle (dt. Titel: Der Dschungel) setzt sich mit den Arbeitsbedingungen und Hygieneverhältnissen in der US-amerikanischen Fleischkonserven-Industrie in den Union Stock Yards Chicagos auseinander. Der Roman wurde ab Februar 1905 in der sozialistischen Zeitschrift Appeal to Reason veröffentlicht. Zahlreiche Verlage lehnten eine Veröffentlichung des Buches ab oder wollten brisante Stellen kürzen, was Sinclair aber ablehnte. Nachdem seine Schilderungen auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft worden waren, veröfffentlichte Anfang 1906 der Verlag Doubleday, Page & Company den Roman.


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Politologe, Literaturwissenschaftler und Trainer | Webseite

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

Von Gerhard Mersmann

Dr. Gerhard Mersmann ist studierter Politologe und Literaturwissenschaftler. Er arbeitete in leitender Funktion über Jahrzehnte in der Personal- und Organisationsentwicklung. In Indonesien beriet er die Regierung nach dem Sturz Soehartos bei ihrem Projekt der Dezentralisierung. In Deutschland versuchte er nach dem PISA-Schock die Schulen autonomer und administrativ selbständiger zu machen. Er leitete ein umfangreiches Change-Projekt in einer großstädtischen Kommunalverwaltung und lernte dabei das gesamte Spektrum politischer Widerstände bei Veränderungsprozessen kennen. Die jahrzehntelange Wahrnehmung von Direktionsrechten hielt ihn nicht davon ab, die geübte Perspektive von unten beizubehalten. Seine Erkenntnisse gibt er in Form von universitären Lehraufträgen weiter. Sein Blick auf aktuelle gesellschaftliche, kulturelle wie politische Ereignisse ist auf seinem Blog M7 sowie bei Neue Debatte regelmäßig nachzulesen.

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