Die Kapitalismuskritik von Karl Marx hat weltweite Beachtung erfahren – bei denen, die die kapitalistischen Verhältnisse überwinden wollen, aber auch bei bürgerlichen Intellektuellen, die von Kapitalismuskritik nichts halten.
Dass die bürgerlichen Intellektuellen sich nicht für die Alternative zum Kapitalismus interessieren, ist verständlich. Aber wie ist es zu erklären, dass die Alternative zum Kapitalismus, die sich aus der Marxschen Kritik des Kapitalismus ableiten lässt, keinerlei Beachtung bei den Kapitalismuskritikern gefunden hat?
Wieso wird das, was Marx und Engels in Bezug auf ihre Kapitalismuskritik im Bild der “Assoziation freier und gleicher Menschen” selbst angedeutet haben, wenn überhaupt, dann nur als idealistisches Zukunftsbild ernstgenommen? Obwohl doch Marx und Engels mit dem Hinweis auf die Arbeitszeitrechnung als Basis für das Verhältnis zwischen Produzent und Produkt selbst die ökonomische Grundlage für das neue Produktionsverhältnis und damit für den selbständigen, unmittelbaren Aufbau des “Vereins freier und gleicher Menschen” benannt haben.
Wie kommt es also, dass die wissenschaftliche Ausarbeitung dessen, was Marx und Engels in Bezug auf ihre Kapitalismuskritik nur angedeutet haben, bei den sich auf Marx beziehenden Kapitalismuskritikern auf kein Interesse gestoßen ist?
Die Erklärung ist sehr einfach. Die kapitalismuskritischen Intellektuellen mögen die aufgezeigte Alternative nicht.
Für die um die Führungsmacht streitenden kommunistischen Parteien ist der Gedanke völlig selbstverständlich, dass die Arbeiter in den Betrieben die Macht übernehmen, um sie der intellektuellen Vorhut zu übergeben, damit diese dann im “Namen und zum Wohle der Arbeiterklasse” die neue Gesellschaft organisieren kann. Der Gedanke, dass die Arbeiter in den Betrieben die Macht übernehmen, um selbst auf der Grundlage der Arbeitszeitrechnung ihr Verhältnis von Produzent zu Produkt zu regeln, ohne hierfür einer privilegierten Führung zu bedürfen, passt nicht zu ihrer Vorstellung eines zentral aufgebauten Wirtschafts- und Verwaltungsapparates.
Aber auch die “libertären Kommunisten” halten von der durch Marx und Engels aufgezeigten ökonomischen Grundlage des “Vereins freier und gleicher Menschen” nichts. Sie wollen in einer kommunistischen Gesellschaft leben und zugleich frei von ihr sein. Über ihr von den ökonomischen Voraussetzungen unabhängiges Ideal einer selbstbestimmten Gesellschaft nach dem Prinzip “Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen” träumen sie von einem unmittelbaren Übergang zur Gesellschaft freier und gleicher Menschen, für die ihnen jede verbindliche ökonomische Grundlage als Widerspruch erscheint.
Die “Parteikommunisten” setzen auf die Diktatur über das Proletariat, an deren fernem Horizont die Freiheit aufscheint, nachdem unter der Führung der Partei über den langwierigen und komplizierten Weg der Entwicklung der Produktivkräfte das Reich der Notwendigkeit überwunden ist.
Die “libertären Kommunisten” setzen auf die über der Ökonomie frei schwebende sozialistische Moral, um ohne das laut Marx unvermeidbare Maß der Arbeitszeitrechnung im Reich der Notwendigkeit das Reich der Freiheit zu errichten. Während die Versuche des Staatskommunismus mit der Diktatur über das Proletariat in einer Rückbesinnung auf den Kapitalismus endeten, endeten 1936 in Spanien die Versuche libertärer Kommunisten im ökonomischen Chaos, in dem die libertären Kommunisten selbst in Formen zentraler Zuteilung ihr Heil suchten [1].
Die 1930 erschienenen “Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung” der Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland) waren angesichts der sich abzeichnenden Erfahrungen mit dem Staatskommunismus in Russland der Versuch, die bereits von Marx und Engels skizzierte ökonomische Grundlage für den Aufbau und die Organisation einer Gesellschaft im Sinne der “Vereinigung freier und gleicher Menschen” wissenschaftlich auszuarbeiten. Dabei berücksichtigten sie zugleich alle gesammelten Erfahrungen der bisherigen Versuche der Arbeiterbewegung, um über deren Kritik notwendige neue Wege aufzeigen zu können.
Zwar haben ihre Ausführungen nichts von ihrer ursprünglichen Aktualität verloren, in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der damaligen Literatur ist ihr Text jedoch ein Kind seiner Zeit geblieben.
Mit der folgenden Artikelserie wird daher versucht, in freier Form die Kernaussagen der “Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung” in die aktuelle Debatte um die Frage nach der Alternative zum Kapitalismus einzubringen.
Als Referenz zu den umfangreichen, zum Teil miteinander verwobenen direkten und indirekten Zitaten aus dem Originaltext dienen die in Klammern dem Text beigefügten Seitenverweise [2].
Beiträge der Serie
Kapitalismuskritik und die Frage nach der Alternative
Teil 1: Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel
Teil 2: Der Verein freier Menschen
Teil 3: Jedem nach seinen Bedürfnissen
Teil 4: Jeder nach seinen Fähigkeiten
Teil 5: Lasst uns die Zukunft verändern

Informationen zum Buch
Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung
Autor: Gruppe Internationaler Kommunisten (Holland)
Genre: Wirtschaft/Politik
Sprache: Deutsch
Seiten: 339
Veröffentlichung: Februar 2020 (Deutsche Erstausgabe der 2. Auflage von 1935)
Verlag: Red & Black Books
Bezug: Syndikat A
ISBN: 978601283687
Quellen und Anmerkungen
[1] Gruppe internationaler Kommunisten, Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung, Red & BlackBooks 2020, S. 91ff. ↩
[2] I zitiert nach 1. Auflage, R. Blankertz Verlag, II zitiert nach 2. Auflage, Red & Black Books 2020. ↩
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Illustration und Buchcover: Neue Debatte und Syndikat A
Hermann Lueer ist Autor und Herausgeber kapitalismuskritischer Literatur. Zuletzt erschienen von ihm 'Große Depression 2.0: Argumente gegen den Kapitalismus' und 'Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung'.